152 Seiten
150 Abbildungen
Großformat 24×30 cm,
schweres Bilderdruckpapier,
durchgehend farbig gedruckt,
gebunden mit Schutzumschlag,
mit einem Vorwort von Reinhold Mißelbeck
und einem Text von Jutta Ana Dobler
Preis: 39,90 Euro
ISBN: 3-88769-092-3&
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 1995
Die Presse:
„Etwas Heiliges, Verbotenes liegt in diesen Szenen, etwas ganz subtil Erotisches“
(Hans-Jürgen Heinrichs, Zürcher Zeitung)
„Karsten liefert ehrliche Akte und einen fast femininen Blick“
(Fotomagazin)
Die Kamera als Spiegel – Aktbildnisse von Thomas Karsten
(Vorwort von Reinhold Mißelbeck)
Blättert man in einem beliebigen Bildband mit Aktphotographie unterschiedlicher Autoren, beispielsweise in einem der Bücher über die Sammlung erotischer Photographie von Uwe Scheid, so mag es durchaus vorkommen, daß Bilder von Thomas Karsten dabei nicht sonderlich auffallen. Sie sind keineswegs auf den ersten Blick spektakulär, zeigen den (überwiegend) weiblichen Körper nicht aus neuartigen, ungewöhnlichen Positionen, plazieren den Akt nicht an Orte, wo sie aufregend auf den Betrachter wirken. Viele sind im Studio aufgenommen, vor neutralem Grund, manche in der häuslichen Umgebung, wieder andere in der freien Natur. Ausgestattet mit all diesen Eigenschaften ist ein Aktbild von Thomas Karsten bestens geeignet, sich zwischen anderen, plakativeren oder aufreizenderen Photographien unauffällig zu verstecken.
Die Besonderheit der Photographie von Thomas Karsten erschließt sich dem Betrachter erst, wenn er eine Reihe seiner Photos sieht, wenn er in einem monographischen, wie dem vorliegenden Buch blättert. Dann wird offenbar, daß Thomas Karsten überhaupt keine Aktphotographie im gängigen Sinn betreibt, dann wird deutlich, daß das der heutigen Aktphotographie so immanente Moment der männlichen erotischen Sicht hier völlig fehlt. Das bedeutet keineswegs, daß sich Thomas Karsten auf die Position zurückzieht, einen Akt extrem unterkühlt zu präsentieren, vergleichbar mit der Ästhetik der Werbephotographie beispielsweise eines Autos oder einer Designerbrille.
Das einfachste wäre es nun, im Gegenzug mit dem Begriff der Natürlichkeit zu operieren, wäre dieses Wort im Zusammenhang mit Aktphotographie nicht allzu abgegriffen und mit der verlogenen Natürlichkeit der fünfziger Jahre eng verknüpft. Weit eher ist da ein Kontext zu nennen, der mit der Biographie von Thomas Karsten zu tun hat, der in der DDR aufgewachsen ist, wo sich jenseits jeder Parteiideologie ein Umgang mit dem nackten Körper etabliert hat, der uns im Westen nicht mehr nachvollziehbar ist, der uns jedoch in seiner ästhetischen Umsetzung an unsere fünfziger Jahre erinnert. Den Zustand könnte man wohl am ehesten als Unbefangenheit beschreiben, er läßt sich aber noch besser dadurch bestimmen, daß wir sein Gegenteil beschreiben, die entsprechende Haltung in der Bundesrepublik.
Dort wird seit Oswalt Kolle Aufklärung und sexuelle Freiheit propagiert, gehört Nacktheit in den Zeitschriftenwald ebenso wie in die Kinofilme, das Fernsehen und die Werbung. Die Propagierung sexueller Freiheit in der bundesdeutschen Wirklichkeit hat jedoch dort ihre Grenzen, wo sie außer Kontrolle gerät, denn schließlich muß neben dieser Freiheit der Reiz des Sexuellen erhalten bleiben, soll es als Lockmittel für den Verkauf von Autos und Seife, von Zeitschriften, Mode und Parfum noch wirksam sein. So kommt es zu der Situation einer versuchten Quadratur des Kreises. Nur solange das Sexuelle und Erotische als Reiz mit einem Hauch des Verbotenen erhalten bleiben, kann die sexuelle Freiheit als solche noch als Errungenschaft verkauft und empfunden werden, und nur solange die sexuelle Freiheit als Ergebnis bürgerlichen Liberalismus propagiert wird, ist sie auf breiter Front in allen Medien einsetzbar, kann mit dem Finger auf die scheinbare Prüderie konservativer Kreise, vergangener Zeiten oder anderer Kulturen gezeigt werden. Offensichtlich ist doch, daß gewisse Publikationsorgane nur darauf warten, daß sich ein solcher Anlaß ergibt, die angeblich so selbstverständlich selbstverständlich gewordene Nacktheit wieder auf die Titelseite zu bringen.
Dieser Spagat, der ja nicht auf der Ebene der Realität stattfindet, sondern auf der Ebene der Bilder, muß im Bewußtsein, auf dem Boden der Wirklichkeit, eine gewisse Spaltung im Verhältnis der Menschen zur Sexualität hinterlassen. So kommt es auf der einen Seite durch die Reizüberflutung durch Bilder zu einer gewissen Sättigung, auf der anderen Seite werden Wünsche geweckt, die so, wie in der Bilderwelt, in der Wirklichkeit nicht erfüllt werden können. Dieses Problem ist sattsam diskutiert und hat bekanntermaßen zur Folge, daß die Strategie aufgeht und Konsum als Ersatzbefriedigung greifen kann.
Die Folgen für unser Verhältnis zur Erotik, zur Nacktheit, zur Sexualität, sind möglicherweise weniger untersucht, doch sind wir, beeinflußt durch die Verknüpfung von sexuellen Reizen mit einer bestimmten Art von Nacktheit auf der Ebene der Bilder weitgehend außerstande, uns im Rahmen der täglichen Wirklichkeit davon zu lösen.
Möglicherweise könnte man Thomas Karstens Umgang mit dem Akt nunmehr so erklären, daß er beim Photographieren ebendiese Bilderebene mit ihren festgelegten Implikationen nicht im Kopf hat, sondern eine Atmosphäre schafft, in der sich seine Modelle bewegen, wie wenn sie nicht vor der Kamera stünden, sondern möglicherweise vor einem Spiegel, in der sie alleine, mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin agieren würden. Man könnte es vielleicht als einen Akt der Selbstinszenierung mit Hilfestellung durch den Photographen bezeichnen. Ganz offensichtlich versucht Thomas Karsten seinen Modellen nicht seine Vorstellung von seinem Gegenüber und dessen Nacktheit überzustülpen, sondern beobachtet ruhig im Hintergrund, greift ein, wo Spannungen auftreten oder verkrampfte Posen. Thomas Karsten erwähnte mir gegenüber des öfteren scherzhaft, viele seiner Modelle würden ihm sagen, er habe überhaupt keinen männlichen Blick. Mir selbst ging es beim Durchblättern der für dieses Buch ausgewählten Bilder so, daß ich zu der Überzeugung kam, die Auswahl sei ausschließlich von Frauen getroffen worden.
Zumindest kann angesichts dieses Bildbandes – und meines Wissens angesichts seiner Aktphotographie ganz allgemein – festgestellt werden, daß Thomas Karsten seine männliche Sicht in der Photographie nicht durchsetzt, daß er nicht seinen Blick auf den Akt im Bild umsetzt, sondern der eigenen Befindlichkeit seiner Modelle auf der Spur ist. Umgekehrt greift er aber auch nicht auf die Ästhetik der ehemaligen DDR zurück, die wir im Kopf un- weigerlich mit »Kraft durch Freude« oder den fünfziger Jahren verbinden. Ästhetisch steht Thomas Karsten in der Tradition der europäischen und amerikanischen Aktphotographie dieses Jahrhunderts. Und dennoch geraten seine Bilder anders als die seiner Kollegen. Sein Interesse ist abweichend, und er versteht es, dies seinen Modellen bewußt zu machen. Daher kommt es in seiner Photographie auch zu anderen Ergebnissen. Charakteristisch für dieses Vorgehen ist auch die Tatsache, daß er manche der Frauen nun schon über viele Jahre beobachtet, ihre Entwicklung vom Mädchen über die schwangere Frau bis zur Mutter im Bild festgehalten hat. Dies hat bei ihm wenig mit Konzept-Kunst zu tun, sondern ist Ausdruck seines anhaltenden Interesses an der Person und an dem, was wir natürliche Entwicklung nennen. Es entspricht Sehen-Wollen und Festhalten-Wollen.
Thomas Karsten ist ein Dokumentarist; er betreibt eine Art Archäologie menschlicher Verhaltensweisen und Entwicklungen und ist sich bewußt, daß – wie bei einem Naturforscher – solche Beobachtungen durch den Beobachtenden, durch seine Eingriffe in ihrer Authentizität empfindlich gestört werden können. So bemüht er sich, Umstände und Situationen herzustellen, in denen sich seine Modelle frei und unbefangen genug fühlen, um ihr ganz persönliches Spiel zu spielen, ihre eigenen Empfindungen und Erwartungen zum Ausdruck zu bringen und die dafür spezifische Mimik und Gestik entwickeln. Thomas Karstens Modelle sind auf seinen Bildern stets mit sich selbst beschäftigt; sie träumen vor sich hin, sind mit ihren Kindern, ihrer Katze oder einem Umhang beschäftigt, lachen lauthals oder treiben Scherze. Wenn der Blick in die Kamera geht, ist er meist herausfordernd, ist er schon wieder als Spiel, als gezielte frivole Herausforderung zu verstehen. Nicht umsonst ist es ausgerechnet Thomas Karsten, dem im Zusammenspiel mit seinen Modellen die eindeutigsten und frechsten frivolen Bilder im Vergleich mit seinen Zeitgenossen gelingen. Bei Thomas Karsten sind exhibitionistische Bilder ebenso möglich wie die scheuer Zurückhaltung, Posen umwerfender Komik genauso wie Portraits voll innerer Kontemplation. Die Vielfalt in diesen Bildern ist die seiner Modelle, kommt aus ihnen selbst, wird von ihm behutsam zugelassen, gefördert, gelenkt und durch seine ganz persönliche Direktheit und Ehrlichkeit im Umgang mit Menschen ermöglicht. Thomas Karsten photographiert Jugendliche ebenso wie ältere Frauen, er beobachtet Falten im Gesicht und am Körper mit der gleichen Aufmerksamkeit, wie die glatte, von der Zeit unbeschriebene Kinderhaut. Dies alles macht dieses Buch, diese Auswahl von Bildern zu einem umfassenden Portrait von Menschen, ihren Gefühlen, Selbstdarstellungen und Panzern. Durch seine Photographie ermöglicht uns Thomas Karsten daran teilzuhaben, sehen wir Aktphotographie nicht als Bilder von Objekten, sondern als Ergebnisse zahlreicher Selbstperformances, für die Thomas Karsten seine Offenheit, sein Auge und seine Kamera zur Verfügung stellte.
(Reinhold Misselbeck)
Reinhold Mißelbeck studierte unter anderem Kunstgeschichte, war Leiter der Fotosammlung des Museums Ludwig und seit 1993 Lehrbeauftragter am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln. Er verstarb im Jahr 2001.
ERSTER AKT
(Text von Jutta Ana Dobler)
Ich habe mich noch nie sehr für Aktaufnahmen interessiert, und ich mag es nicht besonders, fotografiert zu werden. Alles in allem hervorragende Voraussetzungen für unser Projekt.
Thomas und ich sitzen seit Stunden beim Frühstück. Draußen wird es langsam dunkel, und er sagt, daß er beim besten Willen nichts mehr essen kann.
»Fangen wir an.«
Hilfe, jetzt schon? Oben erwähntes Projekt heißt ›Aktphotos von Ana‹, der plötzlich sehr mulmig ist.
Thomas beginnt, das Licht aufzubauen.
»Zieh schon mal den Bademantel an.«
Ich bin wieder fünfzehn in irgendeiner dunklen Ecke auf irgendeiner Party mit irgendeinem Typen, der ganz bestimmt an mir rumfummeln will.
»Ich muß um acht wieder in München sein.«
»Wieso sagst du mir das nicht früher, zum Fotografieren braucht man Zeit.«
Hoffnung.
»Wir könnten die Bilder ein anderes Mal machen.«
»Nee, jetzt bist du schon mal da.«
Ende der Hoffnung.
Natürlich habe ich kein Schminkzeug mit. Thomas kramt weißen Theaterpuder aus einer Schublade, und ich versuche, mein Gesicht zu maskieren.
Die einzige Stelle, auf der der Puder hält, sind meine Wimpern. Sehe aus wie ein Albino, schrecklich. Fehlen nur noch die roten Blitzaugen.
Aber zumindest der Fotograf ist Profi.
Thomas legt Filme ein und hängt schwarze Tücher über die Möbel. Ich entdecke einen Bettvorhang aus weißer Gaze, wunderbar geeignet zum Verstecken.
»Komm, ein Probepolaroid.«
»Vielleicht doch lieber im Bademantel?«
»Ana!« Thomas verdreht die Augen.
Ich lasse die Hülle fallen und hechte hinter den Vorhang.
»Steck wenigstens dein Gesicht raus.«
Also gut.
Das Polaroid ist furchtbar. Meine Haare kleben strähnig am Kopf und ich lächle dümmlich.
Gnadenfrist. Kein Haarspray im Haus, ich bearbeite mein Haupt mit Seife, alles klebt.
Neuer Versuch.
Jetzt gibt die Kamerabatterie den Geist auf.
Ich gebe fachmännische Ratschläge.
»Mach doch lieber ein anderes Licht.«
Noch eine Gnadenfrist.
Vielleicht sollte ich mich betrinken?
Leider bin ich mit dem Auto da, bin über die Autobahn gefahren und über jede Menge Land. Ein paar schwarze Krähen und verlorene Bäume ohne Blätter. Sehr idyllisch.
Aber ich schweife ab.
Die Batterien sind gewechselt, das Licht ist umgebaut. Mein Auftritt.
Augen zu und durch!
»Mach doch die Augen auf«, ruft der Fotograf.
Paranoia.
»Ich schiele, ich spür’s genau.«
»Nein«
»Wirklich nicht?«
»Schielen ist erotisch.«
Scheiße.
Thomas fotografiert. Irgendwas an seiner Kamerahaltung kommt mir komisch vor.
»Was fotografierst du eigentlich?«
»Dein Gesicht.«
»Wieso muß ich mich denn dann ausziehen?«
»Es sieht anders aus so.«
Aha.
Noch ein Polaroid.
Ich habe einen triefäugigen Hundeblick. Thomas findet das süß. Eine Flut von emanzipatorischen Schlagworten in meinem Kopf. Ich sage nichts und starre in die Kamera, die Arme verschränkt. Bestimmt schiele ich.
»Mach mal was.«
»Au ja, klasse! Zieh dich aus und ich mach’ Fotos.«
»Ana«, tönt es anklagend hinter der Kamera hervor.
Wieso mache ich immer so leichtfertige Versprechungen?
Um diese habe ich mich allerdings schon zwei Jahre herumgedrückt. Aber um zu beschreiben, wie es ist, fotografiert zu werden, muß ich es ausprobiert haben, sagt Thomas. Wofür bin ich denn Dichterin?
»Was soll ich eigentlich schreiben?«
»Irgendwas.«
»Super, hast du noch ‘ne Hilfe?«
»Schreib halt was Poetisches.«
»Fotografiert werden ist nicht poetisch.«
»Am Anfang geht es nie so gut, das wird mit jedem Termin besser.«
Oh Gott, nochmal?!
Kulissenwechsel. Weg mit dem Vorhang. Ich finde ein großes grünes Tuch, das mich noch besser einwickelt. Schnell die Arme verschränken. Fertig.
Thomas flucht über das Gewicht der Mamiya.
»Schau, ich hab schon Streifen am Arm.«
»Wir könnten spazierengehen.«
Draußen ist es dunkel, kalt und unheimlich ländlich. Ich hasse spazierengehen.
Keine Reaktion auf meinen Vorschlag. Dann ein Aufschrei.
»Scheiße, ich hab den Schieber dringelassen!«
Irgendwie der Wurm drin in unserer Fotoproduktion.
Ich habe so viele wunderschöne Fotos von wunderschönen Frauen gesehen, die Thomas gemacht hat. Warum ich?
»In zwanzig Jahren bist du froh, daß du die Fotos hast.«
In zwanzig Jahren bin ich berühmt und Thomas ist froh, die Fotos zu haben. Auch das sage ich nicht.
»Fällt dir irgendwas ein, was wir machen könnten?«
»Wie wär’s mit einem Bier in der nächsten Kneipe?«
Thomas stöhnt und ich bekomme einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ich bin wirklich kein sehr kooperatives Modell, und Filme sind teuer.
»Vielleicht was mit Schatten an der Wand.«
Schatten sind wunderbar, Schatten sind dunkel. Wir hängen eine löchrige Stumpfhose vor die Lampe. Auf dem nächsten Pola sehe ich aus, als hätte ich mich drei Wochen nicht gewaschen. Aschenputtel in Vierkirchen.
Ich atme tief durch und beschließe, mich zusammenzureißen.
Es geht schon etwas besser.
Thomas fotografiert und erinnert mich ab und zu daran, die Augen nicht zusammenzukneifen. Er benimmt sich genau wie immer.
Bin ich vielleicht nicht erotisch?
Ich beobachte ihn prüfend. Keine glänzenden Augen, keine zitternden Hände. Ich muß zugeben, daß mich das etwas enttäuscht.
Schließlich bin ich eine nackte Frau! Der Traum aller Männer, oder was?
»Ana, mußt du nicht langsam gehn?«
Na Klasse, grad hatte ich in aller Stille beschlossen, meinen Termin in München zu ignorieren, um heute doch noch rauszufinden, was am Fotografiertwerden dran ist. Ich ziehe mich wieder an.
»Und wer räumt jetzt hier auf?«
»Besorg dir halt einen Assistenten.«
Ich bin etwas gereizt.
»Möchtest du duschen?« ruft es von draußen.
»Wieso, willst du Fotos unter der Dusche?« Ich bin ziemlich gereizt.
»Nein, du?«
Danke.
Ich fahre nach Hause. Irgendwann später rufe ich Thomas an.
»Hast du die Filme schon entwickelt?«
»Was?«
»Hast du die Filme schon entwickelt?«
»Ana, du bist vor einer Stunde gegangen.«
In einer Stunde schafft man mindestens vier Filme, ich weiß es genau.
Die Bilder sind entwickelt, und ich habe die Kontakte gesehen. Das erste spontane Gefühl: ›Das bin nicht ich‹. Ich schaue entweder verschreckt oder hochmütig und meine Abwehrhaltung ist auf den Fotos deutlich sichtbar. Ob ich immer so einen Gesichtsausdruck habe, wenn ich etwas nicht gern tue? Entsetzliche Vorstellung.
Wieso habe ich mich beim Fotografieren so unwohl gefühlt? Ich war ja noch nicht mal nackt, ich war eingehüllt in Tücher und Schals, und fast alle Bilder sind Portraits. Es hat irgend etwas mit dem Vorgang selbst zu tun.
Fotografieren ist das Festhalten winziger Momente, eingefangene Zeitfetzen, aus dem Fluß der Ereignisse gerissen und nun unendlich oft reproduzierbar. Dadurch sind sie zeitlos geworden, sie schmiegen sich an jede Situation an, sobald sie hervorgeholt werden, sind sie da und geben ihre Gefangenen preis. Real ist das dann die Gegenwart, und doch ist es die Gegenwart und ein winziges Stück irgendwann eingefangener Zeit.
Ich betrachte die Bilder, fasziniert oder abgestoßen von der Art, wie ich mich vor der Kamera gebe. Ich starre mir ins papierene Gesicht und versuche, dieses fremde Bild in mein Selbstbild einzugliedern. Ich sehe die Sprünge, die sich ergeben. Ich finde mich schön oder häßlich, langweilig oder interessant. Und je länger ich das Bild anschaue, umso weiter entfernt sich der Augenblick der Aufnahme. Für das Foto gelten andere Regeln, statt meiner Verfallszeit die Verfallszeit des Celluloids, die normalerweise langsamer ist. Und so verfalle ich und mein Konterfei strahlt von der Wand auf mich herab, jung ist es und sieht mich an, wie ich mich sonst nie ansehe, weil es nicht mich angesehen hat, sondern die Linse einer Kamera RB 67.
Und irgendwann finde ich mich überhaupt nicht mehr darin wieder, weil ich mich weiterentwickelt habe und der Abzug längst ausentwickelt ist.
Dann sind die Fotos nur noch Beweise für etwas, das vergangen ist, und das im Heute nichts zu suchen hat. Aber das Grundprinzip des Lebens ist Veränderung, und auch Fotos unterliegen diesem Prinzip. Ich habe mich durch den Fototermin verändert, Thomas hat sich verändert, und wer die Bilder betrachtet, wird sich, und sei es auch nur minimal, ebenfalls verändern. Was mir in die Quere kommt und das ungute Gefühl hervorruft, ist die Unfähigkeit zur Abstraktion. Ich sehe ein Foto von mir nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten, sehe es nicht als Zeitdokument oder als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern als ein Stück eingefangener Seele, zum unkontrollierbaren Gebrauch freigegeben.
Was bewegt andere Frauen, sich fotografieren zu lassen?
Saskia: »Für mich sind die Fotos wie ein Tagebuch, eine Art Indikator meiner Stimmungen. Wenn ich sie anschaue, weiß ich wieder, wie es mir zu bestimmten Zeiten meines Lebens ging, und ich sehe Veränderungen, die mir sonst wahrscheinlich nicht aufgefallen wären.
Vor der Kamera schlüpfe ich in ganz unterschiedliche Rollen, die aber alle etwas mit mir zu tun haben. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich noch irgend etwas anhabe, ein Tuch, ein Hemd, Schuhe…
Das Schöne bei Thomas ist, daß er einen machen läßt und daß er sich so benimmt wie immer. Er versucht auch nicht, Unsicherheiten zu überspielen.
Es stört mich überhaupt nicht, wenn jemand die Fotos anschaut. Sie gehören zu mir.«
Valerie: »Ich denke, ich habe eine ›exhibitionistische Ader‹. In der Aktfotografie kann ich sie kreativ umsetzen, da gehört sie hin. Am Anfang kam ich mir vor der Kamera ganz hilflos vor. Thomas gab mir keine Anweisungen. Inzwischen fühle ich mich wohl dabei, ich spiele keine fremde Rolle, sondern bin einfach so, wie ich grad drauf bin. Das hängt sicher damit zusammen, daß Thomas beim Fotografieren ganz normal bleibt. Er ist kein Spanner, tut auch nicht besonders cool oder so. Er läßt Freiräume.
Zu meinem Körper habe ich ein gutes Verhältnis. Ich mag ihn gern. Auch wenn er nicht dem Prototyp der schönen Frau von der Plakatwand entspricht.«
Vielleicht sind meine Skrupel nur Ausdruck einer bestimmten Moralvorstellung, gekoppelt mit der Angst, benützt zu werden. Aber benützen kann man mich nur, wenn ich es zulasse.
Ich beschließe, es noch einmal zu versuchen.
ZWEITER AKT
Diesmal kommt Thomas zu mir. Er meint, daß ich mich in meiner eigenen Wohnung
wohler fühle. Er meint auch, daß er sein Studio nicht mehr sehen kann (auf Fotos), und daß er Bilder mit Pflanzen machen möchte, von denen bei mir ziemlich viele rumstehen. Ich bin schon wesentlich cooler als beim ersten Termin, arrangiere mich zwischen den Pflanzen und denke sogar daran, die Augen offen zu lassen. Kurze Zeit zumindest. Dann fängt es an, mich ganz furchtbar zu jucken. Ich habe mein Grünzeug sehr gern, aber so nah auf Tuchfühlung waren wir noch nie. Zu Recht, wie sich jetzt zeigt. Rote Flecken überall.
Also raus aus der Botanik.
In der Küche vor dem Spiegel, mit einem großen Umhang und Zigarettenspitze. Thomas versucht mir zu erklären, daß man von der Straße aus nicht in ein Zimmer im dritten Stock schauen kann. Ganz überzeugt bin ich nicht. Aber wir arbeiten mit Tageslicht, deswegen müssen die Jalousien offen bleiben. So springe ich halt jedesmal zurück, wenn unten auf der Straße jemand vorbeigeht. Das ist das einzige, was den Ablauf stört.
Seltsamerweise ist es mir nämlich gar nicht mehr unangenehm, fotografiert zu werden.
Ich habe begonnen, mich zu inszenieren. Das ist faszinierend zu beobachten. Anstatt mich hilflos zu fühlen, werde ich aktiv.
Nach der Session eine Tasse Kaffee und meine Frage an Thomas: »Wieso machst du eigentlich Aktfotografie?«
»Ich war vor vielen Jahren auf der ersten offiziellen Aktfotoausstellung der DDR. Der Fotograf hat sehr junge, ästhetische Körper fotografiert, technisch perfekt, trotzdem waren die Frauen Objekte, man hat den Bildern angemerkt, daß er scharf auf sie war. Gleichzeitig wurde ein einfühlsamer Dokumentarfilm über ein 70-jähriges Ehepaar beim Nacktbaden gezeigt. Hinterher gab es eine Diskussion mit dem Fotografen, dem Filmer und dem Publikum, bei der der Fotograf die Meinung vertrat, daß alte Körper unästhetisch seien und daß Männer sozusagen nur ›Frischfleisch‹ sehen wollten. Ich fand diese Einstellung schockierend und mir kam die Idee, daß es auch als Mann möglich sein muß, Frauen nicht körperbetont, sondern selbstbewußt zu fotografieren. Die Fotos entstehen immer in Zusammenarbeit, ich habe kein festes Bild im Kopf, sondern die Modelle setzen ihre eigenen Vorstellungen um. Viele meiner Modelle fotografiere ich jetzt schon über zehn oder
fünfzehn Jahre hinweg, z.B. vor der Schwangerschaft, während der Schwangerschaft, mit dem Kind usw. Obwohl der Körper zu sehen ist, sind meine Bilder Portraits der Menschen und keine Wichsvorlagen.«
Auch diesmal warte ich gespannt auf die Kontaktabzüge. Manche Bilder gefallen mir, manche gefallen mir nicht, aber fast keines vermittelt mehr den Eindruck eines erschreckten Karnickels vor der Schlange. Ich verteile ein paar rote Klebepunkte auf den Kontaktbögen und stelle beim Zusammenzählen erstaunt fest, daß ich 32 Bilder ausgesucht habe, auf denen ich mich wiederfinde. Beim ersten Fototermin waren es vier. Thomas stöhnt: »Weißt du, wie lange ich dafür wieder in der Dunkelkammer stehe?« Trotzdem bringt er mir die Bilder bei unserem nächsten Treffen mit.
Die Verlegerin ist gekommen, die Grafikerin, der Fotograf und ich. Wir schauen Fotos an, wollen eine erste Vorauswahl für das Buch treffen. Um uns herum stapeln sich die Kästen mit den Bildern. Die große, für die besten Aufnahmen bestimmte Schachtel platzt bereits aus allen Nähten. Wir kabbeln uns ein bißchen über der Frage, was denn nun eigentlich erotisch ist. Einblicke, Ausblicke, Verhüllungen, Nacktheit, ein trauriger Blick, geschlossene Augen, Echtheit, Lachen….?
Jede von uns hat eine andere Vorstellung. Bei manchen Fotos dann doch überraschend Einigkeit, es sind die Bilder, zu denen uns Geschichten einfallen.
Habe mal im Lexikon nachgeschaut. Da steht, daß Eros der griechische Gott der sinnlichen Liebe ist, ein Sohn von Ares und Aphrodite, und daß er ursprünglich als ordnendes Urprinzip der Weltordnung gedacht war. Aus der Formulierung schließe ich, daß es nicht geklappt hat mit der sinnlichen Lust als Ordnungsprinzip. Ob das mit dem Patriarchat zusammenhängt? Nach meinem logischen Verständnis müssen alle ordnenden Kräfte bipolar sein. Dann würde durch die noch immer verbreitete Degradierung der Hälfte der Menschheit zum Lustobjekt der natürliche Ausgleich verlorengehen, und sich das großartige Chaos in ein armseliges Weltbild verwandeln.
Aber zum Glück wächst die Anzahl der Frauen, die wissen, was sie wollen und das auch sagen, und die Anzahl der Männer, die in diesem eigentlich selbstverständlichen Verhalten keine Bedrohung sehen. Gute Chancen für Eros, den ich jetzt trotzdem nicht länger mit theoretischen Ausführungen belästigen möchte.
Zurück zu den Bildern. Immer neue Schätze tauchen aus den Kisten auf. Ich bin fasziniert. Die Gesichter packen mich, fangen mich ein mit der Kraft, die sie ausstrahlen. Thomas hat es geschafft, seine Idee zu verwirklichen.
Die Frauen auf diesen Fotos sind keine Objekte, keine Opfer. Sie sind ›selbst bewußt‹, melancholisch oder voller Lebensfreude, aber immer ganz da. Die Gesichter, die Persönlichkeiten lassen sich nicht ignorieren.
Und die Nacktheit?
Die wirkt auf manchen Bildern so natürlich, daß sie kaum auffällt. Auf den meisten jedoch wird sie von den Modellen bewußt in Szene gesetzt, aus ›Lust an sich‹.
(Jutta Ana Dobler)
Jutta Ana Dobler, geboren 1966 in München und lebt dort als freie Autorin. (Stand 1995)
1994 erschien im Sensenfrauverlag ihr erstes Buch „Blauere Vogel-Schwarze Seele“.