1988 · Thomas – mach ein Bild von uns!




Aktfotografie

120 Seiten
80 Abbildungen
24×30 cm,
Duoton,
engl. Broschur
mit einem Vorwort von Michael Rutschky
und einem Schlußwort von Peter Brasch
vergriffen
ISBN: 3-7658-0578-5
Bucher Verlag, 1988


Kodak Fotobuchpreis 1988



Thomas Karsten machte die unkonventionellen, zärtlichen, fröhlichen, einfühlsamen und erotischen Bilder von Freunden und Freundinnen.


Thomas Karstens Aktportraits
(Nachwort von Peter Brasch)

Rückblende an Morgen. Traum: An einem nebligen Novembermorgen werde ich in einem dreckigen Hausflur mit einem Brandloch im Mantel und einem Wundloch unter dem Herz aufwachen. Irgendjemand, den ich kenne, wird in diesem Haus gewohnt haben. Entweder wird er tot sein oder landflüchtig, und ich werde vergeblich an der Klingel läuten, denn das Haus wird unbewohnt sein. Die Fenster zum Hof und zur Straße sind mit Brettern vernagelt, und ich werde auf die Straße gehen. Eine Straßenbahn wird vorbeifahren, vollbesetzt mit Leuten, die Sekt trinken und einsame Kindergesichter haben und lächeln, und einer wird mir zuzwinkern, aber ich werde dort stehen bleiben, wo ich bin, und mir wird nicht einfallen, wo das ist: ob in Berlin oder Leipzig oder irgendwo, ob in Europa oder am Pol oder irgendwo. Dann werde ich mich auf die Bordsteinkante setzen und darüber nachdenken, wer die Leute in der Straßenbahn waren. Aber es wird mir nicht einfallen, und ich werde einen Stummel rauchen, weil ich keine Zigaretten mehr habe. Dann werde ich der Bahn hinterhersehen, und die Fenster werden mich ansehen, ich werde den Stummel in den Gulli werfen und aufstehen und weitergehen durch die neblige Novemberstraße in dieser Stadt, die keinen Namen hat, vielleicht auch weil ich ihr keinen gegeben habe.


Der Traum ist so real wie irreal. Ich träumte ihn, kurz nachdem ich nach Jahren das erste Mal wieder mit Thomas Karsten telefonierte und er mir vorschlug, einen Text zu seinen Fotos zu schreiben. Als ich die Fotos dann in der Hand hatte, war mir, als sei nicht irgend eine Zeit vergangen oder verloren wie eine Linie, die man hinter sich lässt, sondern als hätte sie einen Kreisbogen um mich geschlagen und wäre so wieder zu mir zurückgekehrt. Thomas` Stimme am Telefon klang genauso wie vor zehn Jahren, als ich ihn in Leipzig das erste Mal traf. Die Leute auf den Fotos, die ich zum Teil kenne, aber seit langem nicht gesehen habe und die Räume, in denen die Fotos gemacht wurden, kamen auf Umwegen wieder zu mir zurück. Wie aus einem Totenreich oder aus einem früher gelebten Leben. Solche Momente haben immer etwas sehr Rührseliges und Wehmütiges, ohne dass man genaue Gründe dafür finden kann. Vielleicht will man sie auch nicht finden, weil eine gesuchte Distanz zur eigenen Geschichte nicht unbedingt klare Beobachtung zur Folge haben muß. Der Beobachter sieht nichts. 

Obwohl diese Fotos auf diese Weise für mich eine Art Zeitdokument sind – ein kleiner Teil davon ist in meiner alten Leipziger Wohnung gemacht worden -, erzählen sie mehr, als auf den ersten Blick darauf zu erkennen ist. Erzählen. Im ursprünglichen Sinn ist ein Aktfoto wahrscheinlich ziemlich ästhetisch-zeitlosen Beurteilungskriterien unterworfen, und der Betrachter verbindet damit kaum eine Geschichte. Diese Fotos haben eine Biographie. In jeder Bewegung auch «Pose» ist kaum eine formal-ästhetische Absicht des Fotografierenden zu entdecken, sondern eher der Wille, einen Moment zu fixieren, der das Ergebnis eines bis dahin gelebten Lebens ist. Auf keinem der Fotos ist etwas Modelliertes zu erkennen, die Leute sehen eher durch den Apparat hindurch als in ihn hinein. So werden zwei Biographien transparent; die des Fotografierten und die des Fotografierenden. Der Betrachtete betrachtet den Betrachter. Das schließt von vornherein jede Form von geplantem Voyeurismus aus, der mich bei den meisten Aktfotos, die ich kenne, sehr stört. Diese Fotos haben meist etwas Gesichtsloses, Kalt-Gestelltes (im wahren Sinn: die Gesichter sind kaltgestellt zu Gunsten künstlich erzeugter Körperlichkeit).

Bei Thomas Karsten gibt es diese Trennung nicht. Gesicht und Körper stellen sich immer in Frage. Und gibt es eine Harmonie, so ist es die Situation, die die Harmonie hervorruft. Ich sehe Gesichter in fröhlicher Kälte.

Ich sehe Gesichter in Erwartungen, deren Ende schon abzusehen ist, und Hoffnungen. In Augen, die durch den Körper aufgehoben sind. Ich sehe Spannungen und Gelöstheiten, die keiner fotografisch-mechanischen Prozedur unterliegen, sondern den Augenblicken, in denen sie entstanden. Das vor allem macht die Schönheit der Fotos aus, auch wenn ich, der sie ansieht, an die eigene Biographie wie an ei Märchen erinnert werde, mich kaum professionell dazu äußern kann und auch nicht will. – Vielleicht ist das ein Vorteil.

Peter Brasch geb.1955 in Cottbus / DDR, gest. am 22.Juni 2001.
1976 wird er nach Ausbürgerung Wolf Biermanns vom Germanistik-Studium in Leipzig exmatrikuliert. Lebte dann als freier Autor und verfasste Gedichte, Erzählungen, Essays und Theaterstücke. Seit 1989 war er Dramaturg und Regisseur in Berlin, Halle und Brandenburg. Starb an Herzversagen in Berlin.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert