2015 · Skin to Skin

216 Seiten
220 Abbildungen
Format 24×22,5 cm,
170g schweres Kunstdruckpapier,
Farbe (alles 4 farbig CMYK) 
Hardcover + amerikanischer Umschlag
Fotobuch mit zwei kurzen Einleitungstexten
Texte: Deutsch, Englisch
Preis: 49,90 Euro
ISBN: 978-3887695712
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 2015

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Geile Sachen, geile Teile

von Fritz Franz Vogel

Ein Bildverbot in Betracht zu ziehen, ist ein Humbug. Die Menschheit würde nicht existieren, auch die Natur selber nicht, wenn sie sich nicht permanent mit Fortpflanzung abgeben würde. Es ist ihre Grundarbeit, letztlich ihre einzige Bestimmung. Ohne Sexualität keine Zukunft, für nichts und niemanden.

Dennoch: Man hat immer wieder ein Herstellungs- und Verbreitungsverbot ausgesprochen, für anzügliche Texte, für offensichtliche Zeichnungen, für realistische Fotografien oder für pornografische Filme. Man wollte Frauen vor Unzucht schützen, Minderjährige vor Verbrechern abschirmen, Tiere vor übergriffen hüten, Väter als Täter überführen, Familiengewalt eindämmen oder die Gesellschaft friedfertiger machen. Die Zensur wurde religiös begründet, moralisch durchdacht, ästhetisch erstrebt, war ökonomisch beeinflusst, feministisch beansprucht oder soziopolitisch bewiesen. Doch jedes Medium hat die Kritik der Gesellschaft erneut ausgelotet, erweitert und mit der ungeheuren Bildproduktion ad absurdum geführt. Sexualität, egal in welcher Form, lässt sich nicht eliminieren, denn sie ist Lernfeld, Streitobjekt, Emanzipationsgrund, Philosophiegegenstand und Lebenszweck. Jede Technik hat je ihre eigenen Körperbilder hervorgebracht: Holzschnitt, Kupferstich, Daguerreotypie, Stereografie, Albuminfotografie, Hochglanzmagazindruck, SX-70, Super-8, VHS, Youporn … Jede Technik hat nicht nur ihre eigene Ästhetik erzeugt — denn die Technik ist weit mehr die Basis für die entsprechende Ästhetik als die ästhetische Reflexion — , sondern hat immer wieder für noch größere Verbreitung gesorgt. Jede neue Technik hat den Faktor der Verbreitung potenziert. Wer heute mit irgendeinem Gerät am Weltnetz angeschlossen ist, hat binnen Sekunden Zugang zum sexualisierten Körper, der nicht sein eigener ist. Allein die Blinden müssen den Voyeurismus entbehren.

Weil Sex an sich die Welt ist und ihr Dasein bedeutet, sind alle Bereiche des Lebens involviert, diesen Lebensdrang, diesen Hotspot und G-Punkt, diese Verführungssucht, dieses Dauerausschweifungspotential zu ahnden, zu zähmen, zu züchtigen, zu begradigen. Wo nackte Haut ist, sind die Gralshüter von Sitte und Moral, die selbsternannten Erzieher zum guten Geschmack, die lauten Prediger des auszurottenden Bösen, die hübschen Kassandras gegen verrufene Geldquellen immer schon zur Stelle, wohlbemerkt mit eigener Doppelmoral. Allein ihre Existenz ist der Beweis, dass es jemand getrieben hat, es gemacht hat, facere, fuck! Keiner ohne Meister Iste, keine ohne l`origine du monde. Und vor allem: Sex ist kommunikativ, lebensbejahend, zukunftsgerichtet. Und: Sex per se hat noch keinen umgebracht!

Wir reden also darüber, immer und ewig. Wir zeigen, was andere treiben, oft und offener als früher. Wir interessieren uns (erstaunlicherweise!) für das, wie es andere treiben, und stellen mit zunehmendem Alter fest, sie machen es gleich wie wir — wenn wir denn können oder noch könnten, wenn wir Möglichkeit hätten, sähen, nutzten. Wir schämen uns, vielleicht, nicht weil wir moralische Skrupel hätten, nein, sondern weil unser (Steh)vermögen abhanden gekommen ist, das Denken vom Fühlen verdrängt worden ist oder weil uns das Geld für käuflichen Sex reut. Begierde und Begehren sind verflogen, die Vagina ist trocken, die Prostata zwingt zum plaisir sec, die Hautlappen hängen über Gebühr. Manchmal mögen intensive Streicheleinheiten, kosmetischer Jungbrunnen oder medizinische Operationen das Auge betrügen, trotzdem sind Kraft und Saft, Straffheit und Steife, Ausdauer und Frische weg. Der Körper ist nicht gleich der Geist, der immer will, aber nicht immer muss. Der Körper hat seine Grenzen, sein Verfallsdatum: wohl denen, die können und dürfen, den andern bekommen wohl die Bilder der andern, die tun und machen. Naturalia non sunt turpia.

Das Schöne am Buch ist sein kompaktes Wesen. Hier wird es gezeigt, beschönigt, ausgeleuchtet: das Schmiegen und Schmusen, das Lecken und Schmatzen, das Saugen und Stoßen, das Keuchen und Knutschen, das Züngeln und Knabbern, das Kneifen und Zwicken. Sex ist Leidenschaft, Sex ist Duldung, Sex ist Zeitvertreib, Sex ist Triebabfuhr. Hier zeigt uns der Fotograf mehr als wir selber sehen, im eigenen Akt und Handeln. Dummerweise haben wir die Augen immer geschlossen, sammeln uns bei den intimeren Handlungen auf uns selbst, erzeugen den Genuss, indem wir uns von der Welt abwenden und uns auf das Lustgeviert einengen, unsere Schwellkörper mit Blut sättigen, sich Cremaster und G-Punkt zusammenballen, damit die Vereinigung Einheit erzeugt, damit es klappt mit den orgiastischen Gefühlen, damit die Entzückungen über den Körper hereinbrechen, die Liebeswellen aus dem Schatzkästlein ausströmen und die Nervenenden zum Tanzen bringen. Ergossen, erschöpft, ermattet, erschlafft.

Der Fotograf ist ein Beobachter, er ist ein Forscher, er ist ein Voyeur, der dem Trubel und Treiben zuschaut, ohne Hemmungen, ohne Kritik, ohne Anstrengung. Die Umgebung ist ein Labor, eine Spielanordnung. Er entdeckt das Vereinigende im Verborgenen, das Lächeln in den Augenwinkeln, verzückte Blicke. Es ist kein Musterbuch für Stellungen, keine Bedienungsanleitung, kein postmodernes Kamasutra. Solcherlei gab es in den 1970ern, um unseren Eltern auf die Sprünge zu helfen, sie unter der geblümten Bettdecke des bürgerlichen Miefs hervorzuholen. Mit den reich bebilderten Hilfsangeboten wurde das Machen einsehbar, teilbar, mit Freude belegt. Mit den Bildern von Thomas Karsten wird der Geschlechtsakt zum Spieleland, zur Kampfwiese, zum Geschlechterdiskurs, zum Ritual um Freiheit und Anerkennung, zum Fragespiel um Dürfen oder Müssen, zum Biotop seltener Spielarten und zum medizinisch kontrollierten Feuchtgebiet. Ausgelassenheit statt Verdruss, Begeisterung statt Trübsal, Erregung statt Unbehagen. Alles ist möglich, doch die knarrende Bettstatt als bürgerlicher Hort der notwendigen Fortpflanzung ist längst passé. Hier sind die Szenerien schöne Prüfstände für allerlei Verbindungsmöglichkeiten: Kommunikationskojen, Kennenlerncouch, Kopulationsklausen, Liebesinseln und und Abhängematten. Es ist ein Kinsey-Report in Fotografie 60 Jahre nach dessen Deutschübersetzung.

Was uns Thomas Karsten außerdem sagt und beweist, ist noch etwas mehr, etwas, was schon fast vergessen ist angesichts aller Narzissmen, selfies, promiskuitiven Nomaden und egoistischen Monaden. Es handelt sich hier um Paare, physisch und psychisch mal enger, mal weniger verbunden, mal um eine Gespielin erweitert, mal auf ein belangloses Techtelmechtel bezogen. Denn Sex allein funktioniert nicht, nicht wirklich. Auch Bilder sind bloß ein schlechter Ersatz (sie sind vielleicht Anschauungsmaterial, Aufklärungsunterricht, Ideenlieferant, Notbehelf, aber kein Ersatz!). Eine echte Person aus Fleisch und Blut hat halt doch den größten Reiz, jemanden von sich zu überzeugen und diese Sache zu beschließen. Eine geile Sache.

Fotografie ist eine Technik, die Oberfläche abbildet. Es gibt kein anderes Organ, das unterschiedlicher und wandelbarer ist als die Haut. Unsere Oberfläche zeigt uns anhand von Aussehen, Farbe, Wärme, Struktur, Reizungen und situationsabhängigen Funktionen unsere Befindlichkeit, aber auch Störungen, Verstimmungen, Krankheiten, Todesnähe. Fotografie ist also prädestiniert, Haut abzubilden, weil sie selber eine technische Haut ist, reproduzierte Hautfetzen der sich wandelnden Welt.

Und noch etwas. Die Karriere von Thomas Karsten — 35 Jahre Aktfotografie, tausend Models, Freunde, Familien, Paare, Partnerinnen, Gespielinnen, zehntausende Filme, eine halbe Million Bilder – kulminiert ein fotografisches Begehren sondergleichen. Es ist eine Leidenschaft, ein Vermächtnis, auch eine Hypothek. Im Konvolut spiegelt sich die Entwicklung der Aktfotografie der letzten drei Jahrzehnte: vom formalen Akt, über die selbstbewusste Ruhe in Aktporträts, über die ungestüme Tumbheit von Teenagern und pickelbefreiten Schönlingen. Der Körper wurde makellos enthaart, dann wieder mit subkutanem Graffiti tätowiert. Die Geschlechtergrenzen wurden aufgeweicht, gesellschaftlich zunächst Geächtetes, Abweichlerisches wie die Transsexuellen kamen in den Fokus. Schließlich kamen Kinder mit zum Fotografiertwerden. Und als diese Kinder größer waren, zeigten sie sich ungehemmt, befreiten ihren Körper in der Natur, frau entledigte sich Tabus, Lesbenszenen, Onanierende, Urinierende und Kopulierende. ältere mischten sich unter Jüngere, Mütter herzten ihre Töchter. Dazwischen kamen die selbstverliebten Partnerinnen, fungierten als Musen, die sich in monografischen Büchern auszogen, ausbreiteten und zu fiktiven Projektionsflächen für träumende Männerherzen wurden. In den drei Jahrzehnten hat sich bezüglich sexueller Selbstfindung und -bestimmung viel getan in der Aktfotografie, zumindest was ihre Veröffentlichung und generelle Akzeptanz angeht, wie auch in der Literatur, wie im Sachbuchbereich, wie in der Werbung. Die Chiffren dazu lauten: de Sade, Bilitis, Peepshow, Klimbim/Tutti frutti, Lara Croft, Aids, Clinton/Lewinsky, Swingerclubs, Sextourismus, Big Brother, PorNo, Partnerbörsen, Intimrasur, Seitensprung, Escort-Service, Viagra/Botox, Pädophilenhysterie, Femen/Pussy Riot, Verrichtungsboxen, bunga-bunga, S/M, sexting, Nacktselfie… 

Sex ist entzaubert, popularisiert und kommerzialisiert worden: Alles ist da, das Begehren ist weg. Jede Form sexueller Betätigung ist überall möglich, gewöhnlich, verfügbar, es braucht bloß das Einverständnis des andern. Die sexuelle Revolution ist zu ihrem Ende und Ziel gekommen: Homosexualität ist akzeptiert, jede Geschlechtsvariante hat ihren Begriff und ihr Ikon, zum Spiel um Herrschaft und Unterwerfung gehören Fesseln und Peitschen, Tätowierungen und Piercings kommen und gehen und hinterlassen gegebenenfalls halt Narbenspuren, Schönheitsoperationen sind erschwinglich, Tabus sind beseitigt, Enthemmung wird als Form der Emanzipation gefeiert, Belästigungen werden bestraft, Kindermachen ist notfalls an die Medizin ausgelagert, Frühdiagnosen zur Geschlechts- oder Krankheitsbestimmung und dergleichen nehmen zu, Behinderte haben ein Selbstbestimmungsrecht und kaufen Sex, verschrumpelte Körper alter Leute haben selbstverständlich Koitus. Wer hingegen aufreizende Kleidung und Bauchfreiheit bei Teenagern kritisiert, wird mit einem shitstorm eingedeckt und als Täter beschimpft. Wer ein Migrationskind zum Schwimmunterricht anhält oder das offene Gesicht statt ein Kopftuch propagiert, wird auf die individuelle (Glaubens)freiheit verwiesen. Wer als Turnlehrer die manuelle Sicherung anwendet, kann leicht der übergriffigkeit bezichtigt werden. Wer im Gymnasium erotische Literatur lesen lässt, hat mit einer Hausdurchsuchung zu rechnen. Das Individuelle gilt mehr als der Gemeinsinn. Sex ist überall, Sex ist nirgendwo. Keuschheit und Asexualität hingegen, früher überzeugende Kardinaltugenden, stehen auf dem Index der psychiatrischen Krankheiten. 

Die geile Sache ist zwar immer noch dieselbe wie eh und je: aufgereiht an den fünf Haltepunkten zum Parnass – visus, allocutio, tactus, osculum, coitus. Denn an all diesen mehr oder weniger lang zu verweilenden Spielorten braucht es mindestens zwei menschliche Geschöpfe, in möglichst einträchtiger Minne, in gegenseitigem Einverständnis, in ähnlich gelagerter Zielsetzung, in gegenseitig zu erfüllendem Verlangen und Verlustieren. Deshalb ist das tribadische Tun auch bildnerisch interessant, da es von den Zehen bis zu den Haaren reicht und nicht so penisfixiert ist. Dieser gesteigerte Narzissmus, die Spiegelsucht nach sich, die Lust als Dauerbrunftzustand, ein ewiges Kokettieren und Koitieren, Pulsieren und Pervertieren. Gemäß den verführerischen Bildern zu urteilen, scheinen vor allem Frauen die Fähigkeit zu haben, ihre Sexualität mit dem ganzen Körper auszuleben. Dieses Allkörperwahrnehmen, das Sichimandernspüren, das Imanderneinundaufgehen, das Kuschelverstecken erfüllen, das Sanftmütigwonnevollschmiegen. Sie sind nicht so punktuell fixiert wie Männer. Beim Mann gilt (grosso modo): Sex. Punkt. Bei der Frau gilt (grosso modo): Spiel. Komma, Fragezeichen, Auslassungspunkte, Strichpunkt, Gedankenstrich, Doppelpunkt, Ausrufzeichen. Da capo. Vielleicht.

Aber wie es mit dem Sex so ist, es drängen immer wieder neue Personengruppen nach, die noch nicht so viel wissen, die auch teilhaben wollen, die ihre Welt wieder anders erschließen und ihre fotografischen Aushängeschilder und Referenten entwickeln. Thomas Karsten hat für seine Generation alles gezeigt. Er verdient hiermit den Titel „Kinsey der Aktfotografie“.

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