1998 · Love Me

192 Seiten
176 Abbildungen
Großformat  24×31,5 cm,
schweres Bilderdruckpapier,
durchgehend Duplex gedruckt,
gebunden mit Schutzumschlag,
mit einem Vorwort von William E. Ewing
und einem Text von Recha Jungmann
Preis: 50 Euro, da beim Verlag vergriffen (alter Preis 39,90 Euro)
ISBN: 3-88769-124-5
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 1998


Die Presse:
 
“Für Thomas Karsten hat Erotik nichts Dramatisches, eher etwas Leichtes und Heiteres, und den Frauen, die sich für seine Aktfotos in Positur stellen, merkt man ihr Vergnügen an …”
(Die Zeit)
 
“Diese Bilder kommunizieren mit dem Betrachter, sind lebendig und dadurch ein Triumph der alltäglichen Schönheit … so oder so ähnlich würde man die eigenen PartnerInnen auch gerne ins Bild setzen.” 
(Hersfelder Zeitung)

Fleisch statt Form
(Vorwort von William A. Ewing)

Eines der beständigsten, vielfältigsten und meist diskutierten Motive, das sich durch die Kunstgeschichte zieht, ist der Akt – oder, um dieses Wort einmal von seinen politischen Inhalten und ästhetischen Ansprüchen zu befreien, – der nackte menschliche Körper. Die Besänftigung von magischen Kräften, moralische Belehrung, wissenschaftliche Forschung, religiöse Indoktrination, technische Herausforderung, erotische Erregung, das Schockieren spießbürgerlicher Empfindsamkeiten – dies sind nur einige der mannigfaltigen Absichten, die die Bildermacher bewegten, seit der prähistorische Mensch vor 30.000 Jahren die erste „Venus“ in Kalkstein ritzte.
Die Photographie hat diese große Tradition noch ausgedehnt und bereichert. Wenn man ihre vergleichsweise kurze Geschichte betrachtet, ist es tatsächlich auffällig, wie weit verbreitet dieses Motiv ist und wie oft der nackte Körper mit den besten Arbeiten der großen Meister in Verbindung gebracht wird. Man denke nur an Man Ray, Cunningham, Weston, Mapplethorpe oder Witkin. Ähnlich wie in der langen Tradition der Malerei und der Bildhauerei, ist einer der faszinierendsten Aspekte des Genres die Beziehung zwischen dem Photographen und seinem Modell – schließlich lag, historisch gesehen, die Darstellung von Akten meist in den Händen männlicher Photographen.
Was treibt einen Photographen, wenn er sich einem nackten menschlichen Körper gegenüber sieht? Die Motive sind unterschiedlich: das eigene Verlangen, ein Kunstwerk zu erschaffen, oder Geld, oder Pornographie oder vielleicht auch das Bedürfnis, Liebe zu zeigen. Es kann sich dabei um professionelle Photographen und Modelle handeln oder um Amateure, Fremde oder Freunde. Doch gleich in welcher Beziehung sie zueinander stehen, es besteht immer ein wechselseitiger Austausch zwischen ihnen. Die erfolgreichsten Kunstwerke scheinen sich aus den photographischen Transaktionen zu ergeben, in denen ein bestimmtes psychologisches Gleichgewicht erreicht wird, das heißt, wenn der Photograph, ohne die ästhetische Kontrolle zu verlieren, seinen Modellen die Zeit und den Raum läßt, sich selbst darzustellen.
Thomas Karsten ist es gelungen, diesen Balanceakt mit sicherer Gelassenheit zu vollziehen. Seine weiblichen Modelle ähneln in keiner Weise den Objekten, die man gemeinhin mit der dominanten bildlichen Tradition assoziiert. Diese Tradition bildet „die Frau“ als gut entwickelt und passiv ab, stellt sie gleichgültig in idyllische Landschaften oder präsentiert sie verloren in erotischen Träumereien. Ebensowenig ähneln Karstens Modelle den glänzenden, geistesabwesenden Sirenen aus Playboy und Vogue. Bescheidenheit, Weiche und Fügsamkeit, diese zunehmend gebrochenen Ideale der Weiblichkeit, die lange Zeit das wichtigste Ausgangsmaterial für Akte waren, das sind Qualitäten, mit denen auf diesen Seiten kurzer Prozeß gemacht wird. Die hier abgebildeten Frauen sind ganz offensichtlich Individuen, die Karsten kennt und – noch wichtiger – die er mag. Er lädt uns ein, durch und durch moderne Frauen zu betrachten, die sich mit ihrem Körper wohl fühlen und offen mit ihrer Sexualität umgehen können. Mit dieser dionysischen Betonung der Sinnlichkeit und des Fleisches, stellt „Love Me“ daher einen willkommenen Gegenpol zu einem Genre dar, das allzu oft das apollinische Ideal der reinen äußeren Form betonte.
 (August 1998, William A. Ewing)
 
William A. Ewing ist eine anerkannte Autorität auf dem Gebiet der Photographie. Er hat Ausstellungen zusammengestellt u.a. für das Museum of Modern Art, New York; Centre Pompidou, Paris; Montreal Museum of Fine Arts; Palazzo Fortuny, Venedig; International Center of Photography, New York. Er ist jetzt Direktor des Musée de I`Elysée, Lausanne.
 

Das bin auch ich
(Text von Recha Jungmann)

Noch nie habe ich so viel weibliche Sinnlichkeit und Süße und Schönheit in so vielen Facetten in einem einzigen Buch gesehen. Als ich zum ersten Mal einige von Thomas Karstens Aktphotos in einer Ausstellung sah, und vor jedem einzelnen lange stehen blieb und schaute und schaute, und dann wieder zum ersten ging und wieder zum zweiten – ich glaube es waren fünf –, versuchte ich mir eine Antwort zu geben auf das, was mich daran so fesselt, so fasziniert. Es war nicht die Nacktheit an sich, die mich wie magisch anzog, sondern diese Frauen, wie sie sich mir zeigten, sich darstellten, so unterschiedlich jede, und jede mir doch so vertraut. Ihre Körper, ihre Augen, ihre Gesten sprechen mit mir, als ob ich es sei, die hinter der Kamera steht, und gleichzeitig fühle ich mich als eine von ihnen. Ich glaubte diese Frauen zu kennen, sie schon einmal gesehen zu haben, auf der Straße im Vorbeigehen, auf einer Party, in einem Konzert, aber nie konnte ich sie so ungestört betrachten, so nackt, so intim, so lange ich möchte. In manchen Frauen kann ich mich wiedererkennen, als ob ich in einen Spiegel schaue, wie die Frau, die aus dem Wasser steigt, mit ihren Händen noch die Sanftheit des Wasser spürend kommt sie mir entgegen, mit geschlossenen Augen. Oder jene, die langgestreckt auf einem Teppich liegt, den Himmel in ihrem Körper. Oder jene, die zusammengekauert auf dem Boden hockt und zu mir heraufschaut, unsicher, ob es auch wirklich ihr Wunsch ist, sich mir unverhüllt zu zeigen. Dann wieder sind es nur Gesten, die mir vertraut sind, wie die Hände schützend zwischen die Beine zu legen, die Schamhaare zu bedecken ohne wirklich Scham zu empfinden, es ist eher Scheu, gepaart mit dem Wissen um die Schönheit meines Körpers, den ich nicht vollständig preisgeben möchte, dieses Hin und Her, dieses Spiel: sich dem Gegenüber zu öffnen und sich wieder zu verschließen. Ich kenne das Empfinden, wenn man die Hände auf die Brüste legt und nicht nur, um sie vor fremden Blicken zu schützen, sondern auch, weil es mir gefällt sie anzufassen, ihre Weichheit, ihre Rundung zu spüren, und ich kenne es auch, den Körper schmücken zu wollen mit Ketten, mit Strümpfen, Schuhen und Schleiern, nur um meine Nacktheit noch verführerischer zu gestalten. Wie gerne wäre ich die Frau, die ganz nackt auf dem gemähten Kornfeld steht, im Hintergrund ein dunkler Wolkenhimmel mit dramatischem Licht. Ich spüre den Wind auf meiner Haut, und mein nackter Körper und die weite Landschaft sind eins. Und dann wiederum gibt es Frauen, die sich ganz anders darstellen, als ich mich darstellen würde. Da gibt es eine, die ich besonders lustig finde undfrech, wie sie mit der Kamera – mit mir, der Betrachterin – kokettiert; sie öffnet ihre Beine so lustvoll und weit und lacht dabei und zwinkert mir zu; sie scheint solch verführerische Posen zu kennen und spielt sie mir vor mit Straps und Strümpfen und Stöckelschuhen. Eine andere hebt ihren weiten rüschigen Rock und zeigt mir herausfordernd ihren Po, während eine andere auf dem Boden hockt mit scheinbar geschlossenen Beinen, mir den Blick frei gibt auf ihre Schamlippen, ganz ohne Scham.

Manche Frauen zeigen mir ihren Körper freimütig und nackt, während ihr Blick mich abweist; auch dies finde ich reizvoll. Doch so unterschiedlich die Frauen auch sind und sich darstellen, so scheint es mir doch, als ob ich jede Einzelne in ihrem Wesen oder besser gesagt: in ihrem weiblichen Wesen erfühlen könnte.

Oft schon habe ich gehört, daß der weibliche Körper schöner sei, als der männliche. Ich konnte das nicht so sehen, für mich waren beide in ihrer Verschiedenheit reizvoll. Doch als ich die Bilder in diesem Buch betrachtete, wo zwei oder drei, auf einem sogar vier Frauen ineinanderverschlungen daliegen, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß ein Frauenkörper wirklich schöner sein kann als der männliche. Es sind vor allem die Brüste, die das Gleichmaß ergeben, aber auch die Rundungen von Schultern und Hüften, und nicht zu vergessen die Schamhaare: manche leicht und duftig, andere wie tiefdunkles Moosgeflecht auf alabasterfarbenem Grund. Ein Photo gefällt mir besonders, wo zwei Frauen auf einem steinigen Boden liegen, nebeneinander, die Augen geschlossen, und jede berührt nur mit einer Hand den Körper der anderen. Ich glaube nicht, daß zwei Männerkörper nebeneinander so viel Sanftheit und Ebenmäßigkeit und Hingabe ausstrahlen können, wie diese beiden Frauen. Auch Haare können Ausdruck von weiblicher Schönheit sein. Ich denke dabei an das Photo von der Frau, die ihren Kopf leicht nach unten beugt und ihre dunkelglänzenden Haare fallen nach vorn über die Schulter bis zu den Brüsten und verdecken geheimnisvoll das Gesicht und unter durchsichtigem Stoff ihr nackter Körper. Und oft ist auch die Haut so weiß und zart und die Brüste so lieblich, daß ich nicht genug bekommen kann, sie zu betrachten. Dann sind es wieder die Schamhaare, die mich neugierig machen: manche rasiert und reduziert zu netten dunklen oder hellen Fleckchen, die etwas Betörendes haben, ebenso die natürlich gewachsenen – mit welcher Neugier betrachte ich auch sie, denn alle sind nie gleich in Form und Dichte und Ausdruck, oder da, wo gar keine Haare sind, sehe ich nur eine mädchenhafte Nacktheit, nett und süß. Doch bei allen wunderbaren und wundersamen Details darf ich nicht vergessen zu erwähnen, daß es oft die Augen sind, ihr Ausdruck, die für mich etwas Unergründliches, ja fast Magisches bekommen in Kombination mit der Nacktheit. Ja, es ist nicht nur die Nacktheit, die mich fesselt, sondern die so unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sich mir in diesem Buch vorstellen. Denn immer gibt es eine Verbindung zwischen Körper, Person und wie sie sich mir zeigt und auch vor welchem Hintergrund. Da gibt es Felsen, Wasser, eine zerbröckelte Mauer, ein Kornfeld oder einfach nur schwarz. Es dauerte eine Weile bis mir bewußt wurde, wie überzeugend die Umgebung der Ausstrahlung der jeweiligen Frau entspricht, weil sie so unauffällig ist: wie selbstverständlich scheint es mir, daß die eine aus dem Wasser steigt, die andere rücklings auf einem Stuhl sitzt und wieder eine andere an einem geöffneten Fenster steht … Auch die Utensilien faszinieren mich und wie genau sie zu dem Wesen der Frau zu passen scheinen, die sie trägt oder die mit ihnen spielt, wie die Frau mit der Schlange. Perlenketten und Kettchen überhaupt und Ringe – wie der Ring mit dem Auge –, unterstreichen die Charaktere, auch schwarze Stiefel und schwere Schuhe, eine durchsichtige oder schwarze Plastikhülle, und dann die verschiedensten Bänder und Schnüre und wie sie um den Körper geschlungen sind. Doch immer scheint das Drumherum sehr einfach, nur dazu da, das Wesen jeder Frau, ihre Erotik, ihre Träume zu vervollständigen. Das Portrait einer Frau neben dem Photo ihres nackten Körpers, das ist für mich letztlich auch die Aussage des ganzen Buches: Körper und Persönlichkeit sind nicht zu trennen. „Love me“ ist ein schöner und bezeichnender Titel. Doch für mich bedeutet das Buch noch mehr: Es gibt Einblick in mein weibliches Inneres und in das meiner vielen, vielen Schwestern.

Normalerweise erzeugt das Objektiv einer Kamera immer eine gewisse Distanz, speziell bei Aktphotos fühle ich mich oft unbeteiligt oder nur als neugierige Betrachterin. Doch die Frauen in diesem Buch scheinen mir zum Greifen nah, als ob ich mit ihnen im selben Raum sei oder in der gleichen Landschaft. Ich fühle keine Distanz. Sie schauen mich an, und ich meine zu wissen, was sie mir sagen wollen, über sich, und wie sie ihre Weiblichkeit und ihren Körper empfinden, und selbst wenn sie mir nur ihren Rücken zeigen, so bleibt es ein Gespräch mit der Kamera, mit mir.

Vielleicht hat das Gefühl von Nähe, das ich beim Anschauen dieser Photos empfinde, auch etwas damit zu tun, daß ich selbst eine Frau bin und Frauen sehr gut kenne, auch die Nacktheit von Frauen, denn ich bin nur unter Frauen aufgewachsen. Ja, vielleicht bin ich auch deshalb so verzaubert von diesen Photos, weil die Art und Weise, wie Thomas Karsten Frauen sieht und aufnimmt, eine Intimität wiederspiegelt, die ich nur erlebt habe, wenn sich Frauen ganz unter sich fühlen. Ich denke dabei an ein türkisches Bad in Tunesien, wo ich fast einen Tag nur unter nackten oder nur sehr wenig bekleideten Frauen verbrachte, und es war nicht nur die Hitze und der Dunst des heißen Wassers, der einen märchenhaften gelben Schleier um all die Frauen hüllte – die da saßen, hockten oder lagen oder in Grüppchen herumstanden –, der diesen unvergeßlichen Zauber in mir auslöste. Es war auch die Intimität, sich so nah und nackt in den gleichen Räumen zu bewegen, und die Stunden vergingen, ohne daß ich es merkte. Ich habe auch nicht weiter darüber nachgedacht, warum ich mich unter diesen Frauen so warm und aufgehoben fühlte. Nur an einen Gedanken erinnere ich mich: „Ich hätte nichts dagegen, in einem Harem zu leben!“
Ich könnte mir vorstellen, daß das Buch bei Männern, die es betrachten, einen umgekehrten Zauber auslöst: Er schaut in diese intime, so andere Welt, wo er nur manchmal – oder vielleicht nie wirklich? – Zugang hat. Er schiebt einen Vorhang auf die Seite und wirft einen Blick in Räume, in denen es nur Frauen gibt, diese und jene und jede so anders. Ein Paradies für sich. Ist es das, was Thomas Karsten mit seiner Kamera tut: Er führt uns in ein Frauenparadies? In einen Harem? Denn Harem heißt ja eigentlich nur ‚innen‘, ‚Innenwelt‘, im Gegensatz zur Außenwelt. Hier gibt es keine Heimlichkeiten, nichts Verbotenes. Sie schauen uns an, diese Frauen, sie nehmen uns wahr, aber sie lassen sich nicht stören, im Gegenteil, sie verlocken uns: noch genauer, noch tiefer zu schauen, durch ihren Körper in ihre Seele, wie in tausend Spiegel. Ich möchte zu ihnen gehören, ich möchte ebenso zärtlich betrachtet werden, ganz ohne Kleider, ganz nackt.
(Juli 1998, Recha Jungmann)
 Recha Jungmann, Filmautorin und Regisseurin, sie lebt in Frankfurt/Main.

1995 · Lust an sich

152 Seiten
150 Abbildungen
Großformat  24×30 cm,
schweres Bilderdruckpapier,
durchgehend farbig gedruckt,
gebunden mit Schutzumschlag,
mit einem Vorwort von Reinhold Mißelbeck
und einem Text von Jutta Ana Dobler
Preis: 50 Euro, da beim Verlag vergriffen (alter Preis 39,90 Euro)
ISBN: 3-88769-092-3&
Konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, 1995


Die Presse:

„Etwas Heiliges, Verbotenes liegt in diesen Szenen, etwas ganz subtil Erotisches“
(Hans-Jürgen Heinrichs, Zürcher Zeitung)
 
„Karsten liefert ehrliche Akte und einen fast femininen Blick“
(Fotomagazin)




Die Kamera als Spiegel – Aktbildnisse von Thomas Karsten
(Vorwort von Reinhold Mißelbeck)

Blättert man in einem beliebigen Bildband mit Aktphotographie unterschiedlicher Autoren, beispielsweise in einem der Bücher über die Sammlung erotischer Photographie von Uwe Scheid, so mag es durchaus vorkommen, daß Bilder von Thomas Karsten dabei nicht sonderlich auffallen. Sie sind keineswegs auf den ersten Blick spektakulär, zeigen den (überwiegend) weiblichen Körper nicht aus neuartigen, ungewöhnlichen Positionen, plazieren den Akt nicht an Orte, wo sie aufregend auf den Betrachter wirken. Viele sind im Studio aufgenommen, vor neutralem Grund, manche in der häuslichen Umgebung, wieder andere in der freien Natur. Ausgestattet mit all diesen Eigenschaften ist ein Aktbild von Thomas Karsten bestens geeignet, sich zwischen anderen, plakativeren oder aufreizenderen Photographien unauffällig zu verstecken.

Die Besonderheit der Photographie von Thomas Karsten erschließt sich dem Betrachter erst, wenn er eine Reihe seiner Photos sieht, wenn er in einem monographischen, wie dem vorliegenden Buch blättert. Dann wird offenbar, daß Thomas Karsten überhaupt keine Aktphotographie im gängigen Sinn betreibt, dann wird deutlich, daß das der heutigen Aktphotographie so immanente Moment der männlichen erotischen Sicht hier völlig fehlt. Das bedeutet keineswegs, daß sich Thomas Karsten auf die Position zurückzieht, einen Akt extrem unterkühlt zu präsentieren, vergleichbar mit der Ästhetik der Werbephotographie beispielsweise eines Autos oder einer Designerbrille.

Das einfachste wäre es nun, im Gegenzug mit dem Begriff der Natürlichkeit zu operieren, wäre dieses Wort im Zusammenhang mit Aktphotographie nicht allzu abgegriffen und mit der verlogenen Natürlichkeit der fünfziger Jahre eng verknüpft. Weit eher ist da ein Kontext zu nennen, der mit der Biographie von Thomas Karsten zu tun hat, der in der DDR aufgewachsen ist, wo sich jenseits jeder Parteiideologie ein Umgang mit dem nackten Körper etabliert hat, der uns im Westen nicht mehr nachvollziehbar ist, der uns jedoch in seiner ästhetischen Umsetzung an unsere fünfziger Jahre erinnert. Den Zustand könnte man wohl am ehesten als Unbefangenheit beschreiben, er läßt sich aber noch besser dadurch bestimmen, daß wir sein Gegenteil beschreiben, die entsprechende Haltung in der Bundesrepublik.
Dort wird seit Oswalt Kolle Aufklärung und sexuelle Freiheit propagiert, gehört Nacktheit in den Zeitschriftenwald ebenso wie in die Kinofilme, das Fernsehen und die Werbung. Die Propagierung sexueller Freiheit in der bundesdeutschen Wirklichkeit hat jedoch dort ihre Grenzen, wo sie außer Kontrolle gerät, denn schließlich muß neben dieser Freiheit der Reiz des Sexuellen erhalten bleiben, soll es als Lockmittel für den Verkauf von Autos und Seife, von Zeitschriften, Mode und Parfum noch wirksam sein. So kommt es zu der Situation einer versuchten Quadratur des Kreises. Nur solange das Sexuelle und Erotische als Reiz mit einem Hauch des Verbotenen erhalten bleiben, kann die sexuelle Freiheit als solche noch als Errungenschaft verkauft und empfunden werden, und nur solange die sexuelle Freiheit als Ergebnis bürgerlichen Liberalismus propagiert wird, ist sie auf breiter Front in allen Medien einsetzbar, kann mit dem Finger auf die scheinbare Prüderie konservativer Kreise, vergangener Zeiten oder anderer Kulturen gezeigt werden. Offensichtlich ist doch, daß gewisse Publikationsorgane nur darauf warten, daß sich ein solcher Anlaß ergibt, die angeblich so selbstverständlich selbstverständlich gewordene Nacktheit wieder auf die Titelseite zu bringen.

Dieser Spagat, der ja nicht auf der Ebene der Realität stattfindet, sondern auf der Ebene der Bilder, muß im Bewußtsein, auf dem Boden der Wirklichkeit, eine gewisse Spaltung im Verhältnis der Menschen zur Sexualität hinterlassen. So kommt es auf der einen Seite durch die Reizüberflutung durch Bilder zu einer gewissen Sättigung, auf der anderen Seite werden Wünsche geweckt, die so, wie in der Bilderwelt, in der Wirklichkeit nicht erfüllt werden können. Dieses Problem ist sattsam diskutiert und hat bekanntermaßen zur Folge, daß die Strategie aufgeht und Konsum als Ersatzbefriedigung greifen kann.

Die Folgen für unser Verhältnis zur Erotik, zur Nacktheit, zur Sexualität, sind möglicherweise weniger untersucht, doch sind wir, beeinflußt durch die Verknüpfung von sexuellen Reizen mit einer bestimmten Art von Nacktheit auf der Ebene der Bilder weitgehend außerstande, uns im Rahmen der täglichen Wirklichkeit davon zu lösen.

Möglicherweise könnte man Thomas Karstens Umgang mit dem Akt nunmehr so erklären, daß er beim Photographieren ebendiese Bilderebene mit ihren festgelegten Implikationen nicht im Kopf hat, sondern eine Atmosphäre schafft, in der sich seine Modelle bewegen, wie wenn sie nicht vor der Kamera stünden, sondern möglicherweise vor einem Spiegel, in der sie alleine, mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin agieren würden. Man könnte es vielleicht als einen Akt der Selbstinszenierung mit Hilfestellung durch den Photographen bezeichnen. Ganz offensichtlich versucht Thomas Karsten seinen Modellen nicht seine Vorstellung von seinem Gegenüber und dessen Nacktheit überzustülpen, sondern beobachtet ruhig im Hintergrund, greift ein, wo Spannungen auftreten oder verkrampfte Posen. Thomas Karsten erwähnte mir gegenüber des öfteren scherzhaft, viele seiner Modelle würden ihm sagen, er habe überhaupt keinen männlichen Blick. Mir selbst ging es beim Durchblättern der für dieses Buch ausgewählten Bilder so, daß ich zu der Überzeugung kam, die Auswahl sei ausschließlich von Frauen getroffen worden.
Zumindest kann angesichts dieses Bildbandes – und meines Wissens angesichts seiner Aktphotographie ganz allgemein – festgestellt werden, daß Thomas Karsten seine männliche Sicht in der Photographie nicht durchsetzt, daß er nicht seinen Blick auf den Akt im Bild umsetzt, sondern der eigenen Befindlichkeit seiner Modelle auf der Spur ist. Umgekehrt greift er aber auch nicht auf die Ästhetik der ehemaligen DDR zurück, die wir im Kopf un- weigerlich mit »Kraft durch Freude« oder den fünfziger Jahren verbinden. Ästhetisch steht Thomas Karsten in der Tradition der europäischen und amerikanischen Aktphotographie dieses Jahrhunderts. Und dennoch geraten seine Bilder anders als die seiner Kollegen. Sein Interesse ist abweichend, und er versteht es, dies seinen Modellen bewußt zu machen. Daher kommt es in seiner Photographie auch zu anderen Ergebnissen. Charakteristisch für dieses Vorgehen ist auch die Tatsache, daß er manche der Frauen nun schon über viele Jahre beobachtet, ihre Entwicklung vom Mädchen über die schwangere Frau bis zur Mutter im Bild festgehalten hat. Dies hat bei ihm wenig mit Konzept-Kunst zu tun, sondern ist Ausdruck seines anhaltenden Interesses an der Person und an dem, was wir natürliche Entwicklung nennen. Es entspricht Sehen-Wollen und Festhalten-Wollen.

Thomas Karsten ist ein Dokumentarist; er betreibt eine Art Archäologie menschlicher Verhaltensweisen und Entwicklungen und ist sich bewußt, daß – wie bei einem Naturforscher – solche Beobachtungen durch den Beobachtenden, durch seine Eingriffe in ihrer Authentizität empfindlich gestört werden können. So bemüht er sich, Umstände und Situationen herzustellen, in denen sich seine Modelle frei und unbefangen genug fühlen, um ihr ganz persönliches Spiel zu spielen, ihre eigenen Empfindungen und Erwartungen zum Ausdruck zu bringen und die dafür spezifische Mimik und Gestik entwickeln. Thomas Karstens Modelle sind auf seinen Bildern stets mit sich selbst beschäftigt; sie träumen vor sich hin, sind mit ihren Kindern, ihrer Katze oder einem Umhang beschäftigt, lachen lauthals oder treiben Scherze. Wenn der Blick in die Kamera geht, ist er meist herausfordernd, ist er schon wieder als Spiel, als gezielte frivole Herausforderung zu verstehen. Nicht umsonst ist es ausgerechnet Thomas Karsten, dem im Zusammenspiel mit seinen Modellen die eindeutigsten und frechsten frivolen Bilder im Vergleich mit seinen Zeitgenossen gelingen. Bei Thomas Karsten sind exhibitionistische Bilder ebenso möglich wie die scheuer Zurückhaltung, Posen umwerfender Komik genauso wie Portraits voll innerer Kontemplation. Die Vielfalt in diesen Bildern ist die seiner Modelle, kommt aus ihnen selbst, wird von ihm behutsam zugelassen, gefördert, gelenkt und durch seine ganz persönliche Direktheit und Ehrlichkeit im Umgang mit Menschen ermöglicht. Thomas Karsten photographiert Jugendliche ebenso wie ältere Frauen, er beobachtet Falten im Gesicht und am Körper mit der gleichen Aufmerksamkeit, wie die glatte, von der Zeit unbeschriebene Kinderhaut. Dies alles macht dieses Buch, diese Auswahl von Bildern zu einem umfassenden Portrait von Menschen, ihren Gefühlen, Selbstdarstellungen und Panzern. Durch seine Photographie ermöglicht uns Thomas Karsten daran teilzuhaben, sehen wir Aktphotographie nicht als Bilder von Objekten, sondern als Ergebnisse zahlreicher Selbstperformances, für die Thomas Karsten seine Offenheit, sein Auge und seine Kamera zur Verfügung stellte.
(Reinhold Misselbeck)
 
Reinhold Mißelbeck studierte unter anderem Kunstgeschichte, war Leiter der Fotosammlung des Museums Ludwig und seit 1993 Lehrbeauftragter am Kunsthistorischen Institut der Universität zu Köln. Er verstarb im Jahr 2001. 


ERSTER AKT
(Text von Jutta Ana Dobler)

Ich habe mich noch nie sehr für Aktaufnahmen interessiert, und ich mag es nicht besonders, fotografiert zu werden. Alles in allem hervorragende Voraussetzungen für unser Projekt.
Thomas und ich sitzen seit Stunden beim Frühstück. Draußen wird es langsam dunkel, und er sagt, daß er beim besten Willen nichts mehr essen kann.
»Fangen wir an.«
Hilfe, jetzt schon? Oben erwähntes Projekt heißt ›Aktphotos von Ana‹, der plötzlich sehr mulmig ist.
Thomas beginnt, das Licht aufzubauen.
»Zieh schon mal den Bademantel an.«
Ich bin wieder fünfzehn in irgendeiner dunklen Ecke auf irgendeiner Party mit irgendeinem Typen, der ganz bestimmt an mir rumfummeln will.
»Ich muß um acht wieder in München sein.«
»Wieso sagst du mir das nicht früher, zum Fotografieren braucht man Zeit.«
Hoffnung.
»Wir könnten die Bilder ein anderes Mal machen.«
»Nee, jetzt bist du schon mal da.«
Ende der Hoffnung.
Natürlich habe ich kein Schminkzeug mit. Thomas kramt weißen Theaterpuder aus einer Schublade, und ich versuche, mein Gesicht zu maskieren.
Die einzige Stelle, auf der der Puder hält, sind meine Wimpern. Sehe aus wie ein Albino, schrecklich. Fehlen nur noch die roten Blitzaugen.
Aber zumindest der Fotograf ist Profi.
Thomas legt Filme ein und hängt schwarze Tücher über die Möbel. Ich entdecke einen Bettvorhang aus weißer Gaze, wunderbar geeignet zum Verstecken.
»Komm, ein Probepolaroid.«
»Vielleicht doch lieber im Bademantel?«
»Ana!« Thomas verdreht die Augen.
Ich lasse die Hülle fallen und hechte hinter den Vorhang.
»Steck wenigstens dein Gesicht raus.«
Also gut. 
Das Polaroid ist furchtbar. Meine Haare kleben strähnig am Kopf und ich lächle dümmlich.
Gnadenfrist. Kein Haarspray im Haus, ich bearbeite mein Haupt mit Seife, alles klebt. 
Neuer Versuch.
Jetzt gibt die Kamerabatterie den Geist auf.
Ich gebe fachmännische Ratschläge. 
»Mach doch lieber ein anderes Licht.«
Noch eine Gnadenfrist.
Vielleicht sollte ich mich betrinken?
Leider bin ich mit dem Auto da, bin über die Autobahn gefahren und über jede Menge Land. Ein paar schwarze Krähen und verlorene Bäume ohne Blätter. Sehr idyllisch.
Aber ich schweife ab.
Die Batterien sind gewechselt, das Licht ist umgebaut. Mein Auftritt.
Augen zu und durch!
»Mach doch die Augen auf«, ruft der Fotograf.
Paranoia.
»Ich schiele, ich spür’s genau.«
»Nein«
»Wirklich nicht?«
»Schielen ist erotisch.«
Scheiße.
Thomas fotografiert. Irgendwas an seiner Kamerahaltung kommt mir komisch vor.
»Was fotografierst du eigentlich?«
»Dein Gesicht.«
»Wieso muß ich mich denn dann ausziehen?«
»Es sieht anders aus so.«
Aha. 
Noch ein Polaroid.
Ich habe einen triefäugigen Hundeblick. Thomas findet das süß. Eine Flut von emanzipatorischen Schlagworten in meinem Kopf. Ich sage nichts und starre in die Kamera, die Arme verschränkt. Bestimmt schiele ich.
»Mach mal was.«
»Au ja, klasse! Zieh dich aus und ich mach’ Fotos.«
»Ana«, tönt es anklagend hinter der Kamera hervor.
Wieso mache ich immer so leichtfertige Versprechungen? 
Um diese habe ich mich allerdings schon zwei Jahre herumgedrückt. Aber um zu beschreiben, wie es ist, fotografiert zu werden, muß ich es ausprobiert haben, sagt Thomas. Wofür bin ich denn Dichterin?
»Was soll ich eigentlich schreiben?«
»Irgendwas.«
»Super, hast du noch ‘ne Hilfe?«
»Schreib halt was Poetisches.«
»Fotografiert werden ist nicht poetisch.«
»Am Anfang geht es nie so gut, das wird mit jedem Termin besser.«
Oh Gott, nochmal?!
Kulissenwechsel. Weg mit dem Vorhang. Ich finde ein großes grünes Tuch, das mich noch besser einwickelt. Schnell die Arme verschränken. Fertig.
Thomas flucht über das Gewicht der Mamiya. 
»Schau, ich hab schon Streifen am Arm.«
»Wir könnten spazierengehen.«
Draußen ist es dunkel, kalt und unheimlich ländlich. Ich hasse spazierengehen.
Keine Reaktion auf meinen Vorschlag. Dann ein Aufschrei.
»Scheiße, ich hab den Schieber dringelassen!«
Irgendwie der Wurm drin in unserer Fotoproduktion. 
Ich habe so viele wunderschöne Fotos von wunderschönen Frauen gesehen, die Thomas gemacht hat. Warum ich?
»In zwanzig Jahren bist du froh, daß du die Fotos hast.«
In zwanzig Jahren bin ich berühmt und Thomas ist froh, die Fotos zu haben. Auch das sage ich nicht.
»Fällt dir irgendwas ein, was wir machen könnten?«
»Wie wär’s mit einem Bier in der nächsten Kneipe?«
Thomas stöhnt und ich bekomme einen Anflug von schlechtem Gewissen. Ich bin wirklich kein sehr kooperatives Modell, und Filme sind teuer.
»Vielleicht was mit Schatten an der Wand.«
Schatten sind wunderbar, Schatten sind dunkel. Wir hängen eine löchrige Stumpfhose vor die Lampe. Auf dem nächsten Pola sehe ich aus, als hätte ich mich drei Wochen nicht gewaschen. Aschenputtel in Vierkirchen.
 
Ich atme tief durch und beschließe, mich zusammenzureißen.
Es geht schon etwas besser. 
Thomas fotografiert und erinnert mich ab und zu daran, die Augen nicht zusammenzukneifen. Er benimmt sich genau wie immer. 
Bin ich vielleicht nicht erotisch? 
Ich beobachte ihn prüfend. Keine glänzenden Augen, keine zitternden Hände. Ich muß zugeben, daß mich das etwas enttäuscht.
Schließlich bin ich eine nackte Frau! Der Traum aller Männer, oder was?
»Ana, mußt du nicht langsam gehn?«
Na Klasse, grad hatte ich in aller Stille beschlossen, meinen Termin in München zu ignorieren, um heute doch noch rauszufinden, was am Fotografiertwerden dran ist. Ich ziehe mich wieder an.
»Und wer räumt jetzt hier auf?«
»Besorg dir halt einen Assistenten.«
Ich bin etwas gereizt.
»Möchtest du duschen?« ruft es von draußen.
»Wieso, willst du Fotos unter der Dusche?« Ich bin ziemlich gereizt.
»Nein, du?«
Danke.
Ich fahre nach Hause. Irgendwann später rufe ich Thomas an.
»Hast du die Filme schon entwickelt?«
»Was?«
»Hast du die Filme schon entwickelt?«
»Ana, du bist vor einer Stunde gegangen.« 
In einer Stunde schafft man mindestens vier Filme, ich weiß es genau.
 
Die Bilder sind entwickelt, und ich habe die Kontakte gesehen. Das erste spontane Gefühl: ›Das bin nicht ich‹. Ich schaue entweder verschreckt oder hochmütig und meine Abwehrhaltung ist auf den Fotos deutlich sichtbar. Ob ich immer so einen Gesichtsausdruck habe, wenn ich etwas nicht gern tue? Entsetzliche Vorstellung.
Wieso habe ich mich beim Fotografieren so unwohl gefühlt? Ich war ja noch nicht mal nackt, ich war eingehüllt in Tücher und Schals, und fast alle Bilder sind Portraits. Es hat irgend etwas mit dem Vorgang selbst zu tun.
Fotografieren ist das Festhalten winziger Momente, eingefangene Zeitfetzen, aus dem Fluß der Ereignisse gerissen und nun unendlich oft reproduzierbar. Dadurch sind sie zeitlos geworden, sie schmiegen sich an jede Situation an, sobald sie hervorgeholt werden, sind sie da und geben ihre Gefangenen preis. Real ist das dann die Gegenwart, und doch ist es die Gegenwart und ein winziges Stück irgendwann eingefangener Zeit. 
Ich betrachte die Bilder, fasziniert oder abgestoßen von der Art, wie ich mich vor der Kamera gebe. Ich starre mir ins papierene Gesicht und versuche, dieses fremde Bild in mein Selbstbild einzugliedern. Ich sehe die Sprünge, die sich ergeben. Ich finde mich schön oder häßlich, langweilig oder interessant. Und je länger ich das Bild anschaue, umso weiter entfernt sich der Augenblick der Aufnahme. Für das Foto gelten andere Regeln, statt meiner Verfallszeit die Verfallszeit des Celluloids, die normalerweise langsamer ist. Und so verfalle ich und mein Konterfei strahlt von der Wand auf mich herab, jung ist es und sieht mich an, wie ich mich sonst nie ansehe, weil es nicht mich angesehen hat, sondern die Linse einer Kamera RB 67.
Und irgendwann finde ich mich überhaupt nicht mehr darin wieder, weil ich mich weiterentwickelt habe und der Abzug längst ausentwickelt ist.
Dann sind die Fotos nur noch Beweise für etwas, das vergangen ist, und das im Heute nichts zu suchen hat. Aber das Grundprinzip des Lebens ist Veränderung, und auch Fotos unterliegen diesem Prinzip. Ich habe mich durch den Fototermin verändert, Thomas hat sich verändert, und wer die Bilder betrachtet, wird sich, und sei es auch nur minimal, ebenfalls verändern. Was mir in die Quere kommt und das ungute Gefühl hervorruft, ist die Unfähigkeit zur Abstraktion. Ich sehe ein Foto von mir nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten, sehe es nicht als Zeitdokument oder als künstlerisches Ausdrucksmittel, sondern als ein Stück eingefangener Seele, zum unkontrollierbaren Gebrauch freigegeben.
 
 Was bewegt andere Frauen, sich fotografieren zu lassen?
 
Saskia: »Für mich sind die Fotos wie ein Tagebuch, eine Art Indikator meiner Stimmungen. Wenn ich sie anschaue, weiß ich wieder, wie es mir zu bestimmten Zeiten meines Lebens ging, und ich sehe Veränderungen, die mir sonst wahrscheinlich nicht aufgefallen wären. 
Vor der Kamera schlüpfe ich in ganz unterschiedliche Rollen, die aber alle etwas mit mir zu tun haben. Am wohlsten fühle ich mich, wenn ich noch irgend etwas anhabe, ein Tuch, ein Hemd, Schuhe… 
Das Schöne bei Thomas ist, daß er einen machen läßt und daß er sich so benimmt wie immer. Er versucht auch nicht, Unsicherheiten zu überspielen. 
Es stört mich überhaupt nicht, wenn jemand die Fotos anschaut. Sie gehören zu mir.«
 
Valerie: »Ich denke, ich habe eine ›exhibitionistische Ader‹. In der Aktfotografie kann ich sie kreativ umsetzen, da gehört sie hin. Am Anfang kam ich mir vor der Kamera ganz hilflos vor. Thomas gab mir keine Anweisungen. Inzwischen fühle ich mich wohl dabei, ich spiele keine fremde Rolle, sondern bin einfach so, wie ich grad drauf bin. Das hängt sicher damit zusammen, daß Thomas beim Fotografieren ganz normal bleibt. Er ist kein Spanner, tut auch nicht besonders cool oder so. Er läßt Freiräume.
Zu meinem Körper habe ich ein gutes Verhältnis. Ich mag ihn gern. Auch wenn er nicht dem Prototyp der schönen Frau von der Plakatwand entspricht.«
 
Vielleicht sind meine Skrupel nur Ausdruck einer bestimmten Moralvorstellung, gekoppelt mit der Angst, benützt zu werden. Aber benützen kann man mich nur, wenn ich es zulasse.
Ich beschließe, es noch einmal zu versuchen.


ZWEITER AKT
 
Diesmal kommt Thomas zu mir. Er meint, daß ich mich in meiner eigenen Wohnung
wohler fühle. Er meint auch, daß er sein Studio nicht mehr sehen kann (auf Fotos), und daß er Bilder mit Pflanzen machen möchte, von denen bei mir ziemlich viele rumstehen. Ich bin schon wesentlich cooler als beim ersten Termin, arrangiere mich zwischen den Pflanzen und denke sogar daran, die Augen offen zu lassen. Kurze Zeit zumindest. Dann fängt es an, mich ganz furchtbar zu jucken. Ich habe mein Grünzeug sehr gern, aber so nah auf Tuchfühlung waren wir noch nie. Zu Recht, wie sich jetzt zeigt. Rote Flecken überall.
Also raus aus der Botanik.
In der Küche vor dem Spiegel, mit einem großen Umhang und Zigarettenspitze. Thomas versucht mir zu erklären, daß man von der Straße aus nicht in ein Zimmer im dritten Stock schauen kann. Ganz überzeugt bin ich nicht. Aber wir arbeiten mit Tageslicht, deswegen müssen die Jalousien offen bleiben. So springe ich halt jedesmal zurück, wenn unten auf der Straße jemand vorbeigeht. Das ist das einzige, was den Ablauf stört. 
Seltsamerweise ist es mir nämlich gar nicht mehr unangenehm, fotografiert zu werden. 
Ich habe begonnen, mich zu inszenieren. Das ist faszinierend zu beobachten. Anstatt mich hilflos zu fühlen, werde ich aktiv. 
Nach der Session eine Tasse Kaffee und meine Frage an Thomas: »Wieso machst du eigentlich Aktfotografie?« 
»Ich war vor vielen Jahren auf der ersten offiziellen Aktfotoausstellung der DDR. Der Fotograf hat sehr junge, ästhetische Körper fotografiert, technisch perfekt, trotzdem waren die Frauen Objekte, man hat den Bildern angemerkt, daß er scharf auf sie war. Gleichzeitig wurde ein einfühlsamer Dokumentarfilm über ein 70-jähriges Ehepaar beim Nacktbaden gezeigt. Hinterher gab es eine Diskussion mit dem Fotografen, dem Filmer und dem Publikum, bei der der Fotograf die Meinung vertrat, daß alte Körper unästhetisch seien und daß Männer sozusagen nur ›Frischfleisch‹ sehen wollten. Ich fand diese Einstellung schockierend und mir kam die Idee, daß es auch als Mann möglich sein muß, Frauen nicht körperbetont, sondern selbstbewußt zu fotografieren. Die Fotos entstehen immer in Zusammenarbeit, ich habe kein festes Bild im Kopf, sondern die Modelle setzen ihre eigenen Vorstellungen um. Viele meiner Modelle fotografiere ich jetzt schon über zehn oder
fünfzehn Jahre hinweg, z.B. vor der Schwangerschaft, während der Schwangerschaft, mit dem Kind usw. Obwohl der Körper zu sehen ist, sind meine Bilder Portraits der Menschen und keine Wichsvorlagen.«
Auch diesmal warte ich gespannt auf die Kontaktabzüge. Manche Bilder gefallen mir, manche gefallen mir nicht, aber fast keines vermittelt mehr den Eindruck eines erschreckten Karnickels vor der Schlange. Ich verteile ein paar rote Klebepunkte auf den Kontaktbögen und stelle beim Zusammenzählen erstaunt fest, daß ich 32 Bilder ausgesucht habe, auf denen ich mich wiederfinde. Beim ersten Fototermin waren es vier. Thomas stöhnt: »Weißt du, wie lange ich dafür wieder in der Dunkelkammer stehe?« Trotzdem bringt er mir die Bilder bei unserem nächsten Treffen mit.
Die Verlegerin ist gekommen, die Grafikerin, der Fotograf und ich. Wir schauen Fotos an, wollen eine erste Vorauswahl für das Buch treffen. Um uns herum stapeln sich die Kästen mit den Bildern. Die große, für die besten Aufnahmen bestimmte Schachtel platzt bereits aus allen Nähten. Wir kabbeln uns ein bißchen über der Frage, was denn nun eigentlich erotisch ist. Einblicke, Ausblicke, Verhüllungen, Nacktheit, ein trauriger Blick, geschlossene Augen, Echtheit, Lachen….?
Jede von uns hat eine andere Vorstellung. Bei manchen Fotos dann doch überraschend Einigkeit, es sind die Bilder, zu denen uns Geschichten einfallen.
Habe mal im Lexikon nachgeschaut. Da steht, daß Eros der griechische Gott der sinnlichen Liebe ist, ein Sohn von Ares und Aphrodite, und daß er ursprünglich als ordnendes Urprinzip der Weltordnung gedacht war. Aus der Formulierung schließe ich, daß es nicht geklappt hat mit der sinnlichen Lust als Ordnungsprinzip. Ob das mit dem Patriarchat zusammenhängt? Nach meinem logischen Verständnis müssen alle ordnenden Kräfte bipolar sein. Dann würde durch die noch immer verbreitete Degradierung der Hälfte der Menschheit zum Lustobjekt der natürliche Ausgleich verlorengehen, und sich das großartige Chaos in ein armseliges Weltbild verwandeln. 
Aber zum Glück wächst die Anzahl der Frauen, die wissen, was sie wollen und das auch sagen, und die Anzahl der Männer, die in diesem eigentlich selbstverständlichen Verhalten keine Bedrohung sehen. Gute Chancen für Eros, den ich jetzt trotzdem nicht länger mit theoretischen Ausführungen belästigen möchte. 
Zurück zu den Bildern. Immer neue Schätze tauchen aus den Kisten auf. Ich bin fasziniert. Die Gesichter packen mich, fangen mich ein mit der Kraft, die sie ausstrahlen. Thomas hat es geschafft, seine Idee zu verwirklichen.
Die Frauen auf diesen Fotos sind keine Objekte, keine Opfer. Sie sind ›selbst bewußt‹, melancholisch oder voller Lebensfreude, aber immer ganz da. Die Gesichter, die Persönlichkeiten lassen sich nicht ignorieren. 
Und die Nacktheit? 
Die wirkt auf manchen Bildern so natürlich, daß sie kaum auffällt. Auf den meisten jedoch wird sie von den Modellen bewußt in Szene gesetzt, aus ›Lust an sich‹. 
(Jutta Ana Dobler)
 
Jutta Ana Dobler, geboren 1966 in München und lebt dort als freie Autorin. (Stand 1995)
1994 erschien im Sensenfrauverlag ihr erstes Buch „Blauere Vogel-Schwarze Seele“.
 

1988 · Thomas – mach ein Bild von uns!




Aktfotografie

120 Seiten
80 Abbildungen
24×30 cm,
Duoton,
engl. Broschur
mit einem Vorwort von Michael Rutschky
und einem Schlußwort von Peter Brasch
vergriffen
ISBN: 3-7658-0578-5
Bucher Verlag, 1988


Kodak Fotobuchpreis 1988



Thomas Karsten machte die unkonventionellen, zärtlichen, fröhlichen, einfühlsamen und erotischen Bilder von Freunden und Freundinnen.


Thomas Karstens Aktportraits
(Schlußwort von Peter Brasch)

Rückblende an Morgen. Traum: An einem nebligen Novembermorgen werde ich in einem dreckigen Hausflur mit einem Brandloch im Mantel und einem Wundloch unter dem Herz aufwachen. Irgendjemand, den ich kenne, wird in diesem Haus gewohnt haben. Entweder wird er tot sein oder landflüchtig, und ich werde vergeblich an der Klingel läuten, denn das Haus wird unbewohnt sein. Die Fenster zum Hof und zur Straße sind mit Brettern vernagelt, und ich werde auf die Straße gehen. Eine Straßenbahn wird vorbeifahren, vollbesetzt mit Leuten, die Sekt trinken und einsame Kindergesichter haben und lächeln, und einer wird mir zuzwinkern, aber ich werde dort stehen bleiben, wo ich bin, und mir wird nicht einfallen, wo das ist: ob in Berlin oder Leipzig oder irgendwo, ob in Europa oder am Pol oder irgendwo. Dann werde ich mich auf die Bordsteinkante setzen und darüber nachdenken, wer die Leute in der Straßenbahn waren. Aber es wird mir nicht einfallen, und ich werde einen Stummel rauchen, weil ich keine Zigaretten mehr habe. Dann werde ich der Bahn hinterhersehen, und die Fenster werden mich ansehen, ich werde den Stummel in den Gulli werfen und aufstehen und weitergehen durch die neblige Novemberstraße in dieser Stadt, die keinen Namen hat, vielleicht auch weil ich ihr keinen gegeben habe.


Der Traum ist so real wie irreal. Ich träumte ihn, kurz nachdem ich nach Jahren das erste Mal wieder mit Thomas Karsten telefonierte und er mir vorschlug, einen Text zu seinen Fotos zu schreiben. Als ich die Fotos dann in der Hand hatte, war mir, als sei nicht irgend eine Zeit vergangen oder verloren wie eine Linie, die man hinter sich lässt, sondern als hätte sie einen Kreisbogen um mich geschlagen und wäre so wieder zu mir zurückgekehrt. Thomas` Stimme am Telefon klang genauso wie vor zehn Jahren, als ich ihn in Leipzig das erste Mal traf. Die Leute auf den Fotos, die ich zum Teil kenne, aber seit langem nicht gesehen habe und die Räume, in denen die Fotos gemacht wurden, kamen auf Umwegen wieder zu mir zurück. Wie aus einem Totenreich oder aus einem früher gelebten Leben. Solche Momente haben immer etwas sehr Rührseliges und Wehmütiges, ohne dass man genaue Gründe dafür finden kann. Vielleicht will man sie auch nicht finden, weil eine gesuchte Distanz zur eigenen Geschichte nicht unbedingt klare Beobachtung zur Folge haben muß. Der Beobachter sieht nichts. 

Obwohl diese Fotos auf diese Weise für mich eine Art Zeitdokument sind – ein kleiner Teil davon ist in meiner alten Leipziger Wohnung gemacht worden -, erzählen sie mehr, als auf den ersten Blick darauf zu erkennen ist. Erzählen. Im ursprünglichen Sinn ist ein Aktfoto wahrscheinlich ziemlich ästhetisch-zeitlosen Beurteilungskriterien unterworfen, und der Betrachter verbindet damit kaum eine Geschichte. Diese Fotos haben eine Biographie. In jeder Bewegung auch «Pose» ist kaum eine formal-ästhetische Absicht des Fotografierenden zu entdecken, sondern eher der Wille, einen Moment zu fixieren, der das Ergebnis eines bis dahin gelebten Lebens ist. Auf keinem der Fotos ist etwas Modelliertes zu erkennen, die Leute sehen eher durch den Apparat hindurch als in ihn hinein. So werden zwei Biographien transparent; die des Fotografierten und die des Fotografierenden. Der Betrachtete betrachtet den Betrachter. Das schließt von vornherein jede Form von geplantem Voyeurismus aus, der mich bei den meisten Aktfotos, die ich kenne, sehr stört. Diese Fotos haben meist etwas Gesichtsloses, Kalt-Gestelltes (im wahren Sinn: die Gesichter sind kaltgestellt zu Gunsten künstlich erzeugter Körperlichkeit).

Bei Thomas Karsten gibt es diese Trennung nicht. Gesicht und Körper stellen sich immer in Frage. Und gibt es eine Harmonie, so ist es die Situation, die die Harmonie hervorruft. Ich sehe Gesichter in fröhlicher Kälte.

Ich sehe Gesichter in Erwartungen, deren Ende schon abzusehen ist, und Hoffnungen. In Augen, die durch den Körper aufgehoben sind. Ich sehe Spannungen und Gelöstheiten, die keiner fotografisch-mechanischen Prozedur unterliegen, sondern den Augenblicken, in denen sie entstanden. Das vor allem macht die Schönheit der Fotos aus, auch wenn ich, der sie ansieht, an die eigene Biographie wie an ein Märchen erinnert werde, mich kaum professionell dazu äußern kann und auch nicht will. – Vielleicht ist das ein Vorteil.

Peter Brasch geb.1955 in Cottbus / DDR, gest. am 22. Juni 2001.
1976 wird er nach Ausbürgerung Wolf Biermanns vom Germanistik-Studium in Leipzig exmatrikuliert. Lebte dann als freier Autor und verfasste Gedichte, Erzählungen, Essays und Theaterstücke. Seit 1989 war er Dramaturg und Regisseur in Berlin, Halle und Brandenburg. Starb an Herzversagen in Berlin.